Doris Dörrie
München (Weltexpresso) - Freibad, das war für Doris Dörrie das unschuldigste Vergnügen. Bis ihr der eigene Körper mit dreizehn zum Fremdkörper wurde.Hier ihre Erzählung. Die Redaktion
Oh, diese Vorfreude als Kind auf Sommer und Freibad! Endlich die kratzigen Strumpfhosen und Pullover vom Leib reißen, auf empfindlichen Winterfüßen barfuß übers Gras laufen, die Luft am nackten Körper spüren und sich in das eisblaue Wasser stürzen, herumplanschen, bis die Lippen blau werden und die Fingerkuppen sich in „Waschfrauenfinger“ verwandelt haben. In der blassen norddeutschen Sommersonne dann auf dem Handtuch liegen und rosaweiße Schaumwaffeln mampfen oder Pommes, rot-weiß abends erschöpft ins Bett sinken und glückselig den letzten Rest Chlorwasser aus dem Ohr ins Kissen träufeln lassen.
Das Freibad war pures Sommerglück. Wir kannten in Hannover niemanden, der einen Pool besaß. Das war unvorstellbar luxuriös und gehörte nach Amerika, aber nicht nach Niedersachsen. Wir gingen im Winter in ein eiskaltes Hallenbad und im Sommer in das oft nur geringfügig wärmere Freibad, das aber für mich den Inbegriff von Freiheit bedeutete. Weitgehend unbeobachtet von Erwachsenen, außer von den meist grimmigen Bademeistern, die uns anpfiffen, wenn wir Arschbomben vom Beckenrand machten, war es das Paradies.
Umso schockierender, als ich aus diesem Paradies in dem Sommer vertrieben wurde, als ich ziemlich genau dreizehn Jahre alt war, kein Kind mehr, sondern ein Teenager. Über Nacht machte mich mein Freibad unfrei. Mit einem Mal schaute nicht mehr ich in die Welt, sondern die Welt auf mich. Wie konnte das geschehen?
Unverhofft hatte ich nun einen Körper, der zur Beurteilung freigegeben war, und als erwachte ich aus einem unschuldigen Schlaraffenland, verstand ich plötzlich den endlosen Strom der Vergleiche und Kommentare der älteren Mädchen und Frauen um mich herum, die ich zuvor zwar gehört, aber nicht begriffen hatte: Bin ich so fett wie die da? Habe ich auch so dicke Oberschenkel? Sieht mein Hintern so unförmig aus wie bei der da? Was hat die denn für einen riesigen Busen! Und die hat ja überhaupt keinen!
Wie in dem klassischen Albtraum, in dem man mit einem Mal erkennt, dass man vor vollem Haus nackt auf der Bühne steht, fiel mir jetzt schockartig mein weißer Wintermadenkörper mit all seinen Mängeln ins Auge. War ich im Sommer zuvor noch unbehelligt von mir selbst in rutschender Badehose durchs Freibad gehüpft, stakste ich nun unsicher in einem funkelnagelneuen Bikini, ungeschickt von einem Handtuch verhüllt, über die Wiese und versuchte, mit flackerndem Blick schnell einen Liegeplatz zu finden, um bloß nicht herumzustehen und Zielscheibe zu werden.
Ich war davon überzeugt, dass alle mich anglotzten, alle. Frauen und Mädchen, Männer und Jungs. Durch ihre Blicke und die Kriterien ihrer Begutachtung, die ich plötzlich beherrschte wie eine im Schlaf erlernte Sprache, wurde mir mein eigener Körper zum Fremdkörper. Vor allem in diesem verfluchten Bikini! Einen Badeanzug konnte ich auf keinen Fall mehr tragen, den trugen nur Kinder, und ein Kind wollte ich nicht mehr sein. Ich wollte nur meinen Körper wieder vergessen können wie als Kind, aber genau das schien nicht mehr möglich.
Wir wollten alle ständig abnehmen
Der Verlust der Unschuld hatte sich schon beim Kauf des ersten Bikinis – marineblau mit rot-weißen Litzen – angekündigt, eine überraschend unangenehme Angelegenheit, die sich mein ganzes Leben lang wiederholen sollte, nur wusste ich das noch nicht. In dem erbarmungslosen Licht der Kabine schien mir mit einem Mal alles an meinem Körper falsch. Ich drehte und wendete mich verzweifelt vorm Spiegel, bis ich in einer komplizierten Verrenkung einen Winkel erwischte, in dem ich akzeptabel aussah. Vor meinen Augen hatte sich mein Körper in seine Bestandteile aufgelöst, nicht unähnlich dem Plakat in der Metzgerei, das die verschiedenen Fleischteile einer Kuh durchnummerierte. Ich sollte ihn nie mehr als Ganzes zurückbekommen. Jedem meiner Körperteile gab ich eine Note, und keiner bekam eine Eins. Es war sonnenklar, dass alles verbessert werden musste. Die Maßnahmen waren mir noch weitgehend unbekannt, aber das Ziel hatte ich deutlich vor Augen: irgendwann einen perfekten Körper ähnlich selbstsicher durch die Gegend tragen zu können wie die sehr wenigen Mädchen, die ich von nun an im Freibad glühend vor Neid studierte.
Ich war in meinem Neid und meiner Sehnsucht nicht allein, fast alle Mädchen der Klasse waren von nun an auf Diät, in der großen Pause aßen wir statt belegter Brote nur noch einen Apfel. Wir wollten alle ständig abnehmen, obwohl die meisten von uns, ich eingeschlossen, eigentlich schlank waren. Dabei fürchtete man vor allem die Blicke der anderen Frauen. Die Männer bildeten – noch – eine eher amorphe Masse. Die Jungs wollte man zwar kennenlernen, musste aber gleichzeitig so tun, als wünsche man auf keinen Fall Kontakt. Dafür musste man sich auf den Bauch legen und mit den Unterschenkeln winken, und wenn man sich umdrehte, durfte man nicht in ihre Richtung sehen, oder besser: Man durfte nicht dabei ertappt werden.
Mir erschienen die Jungs beneidenswert selbstvergessen, sie lungerten auf den Sprungbrettern herum und sahen auf uns herab, ein Wimmelbild von weiblichen Körpern auf grünem Rasen. Die Jungs lagen auf dem Waschbetonrand direkt neben dem Schwimmbecken, was es fast unmöglich machte, ohne größere Schamanfälle ins Becken zu gelangen. Wenn ich es vor Hitze gar nicht mehr aushielt, trippelte ich auf Zehenspitzen, um die Figur zu strecken, wie es in Modemagazinen vorgemacht wurde, zog den nicht vorhandenen Bauch ein und streckte die ebenso wenig vorhandene Brust raus. Endlich im Wasser, galt es, das unvermeidliche Wassergespritze der Jungs möglichst ungerührt auszuhalten, darüber zu lachen und gut dosiert zu kreischen, denn das schienen sie zu mögen.
Noch schlimmer als der Gang über den Rasen zum Becken war der Weg zurück zum Handtuch, klatschnass, fast blind durch die vom Chlorwasser geröteten und verquollenen Augen und mit strapsigen Haaren. Endlich angekommen, ließ ich mich erleichtert wieder auf den Bauch fallen. Einmal zog ich mir einen schlimmen Sonnenbrand in den Kniekehlen zu, weil sich nicht weit von mir entfernt ein angebeteter Junge aufhielt und ich mich seinetwegen den ganzen Tag nicht traute, mich auf den Rücken zu drehen, geschweige denn aufzustehen. Irgendwann ließ es sich nicht länger vermeiden, und tatsächlich sagte genau dieser Junge grinsend zu mir: Du hast ja ’ne ganz schöne Babywampe. Das war nicht wahr, und dennoch traf mich dieser Satz wie ein vergifteter Pfeil. Ich war erledigt, und ganz gleich, wie oft ich mich danach im Spiegel betrachtete und wirklich keine Babywampe entdecken konnte, hatte ich das Gefühl, in einer Illusion gelebt zu haben, die mir einen besseren Körper vorgegaukelt hatte, als es tatsächlich der Fall war, so wie man sich manchmal schön fühlt, aber dann auf einem Foto feststellen muss, dass das gar nicht gestimmt hat.
Mein erster Sommer im Freibad im Bikini entsprach diesem Foto. Mein Blick auf mich war zu einer erbarmungslosen Instanz geworden. Und ganz gleich, wie sehr ich mich später feministisch und emanzipatorisch dagegen aufgelehnt habe, höre ich, wenn ich in den Spiegel schaue, immer noch eine Stimme den vergifteten Satz flüstern: Wie sieht die denn aus? Der Vergleich führt immer geradewegs in die Hölle. Wie leicht er zu erlernen ist – und wie schwer zu verlernen. Für mich selbst habe ich kaum Hoffnung.
Aber im letzten Sommer habe ich einen Kinofilm gedreht, der in einem Frauenfreibad spielt, und ich hatte den Eindruck, dass das ständige Beurteilen und Vergleichen zumindest unter den jungen Frauen weniger geworden ist. Schön wär’s. Ich hoffe, hoffe, hoffe. Ich selbst allerdings zog dennoch den Bauch ein, wenn ich auf Zehenspitzen über den Rasen ging, ich sah meine Oberschenkel von hinten, zählte die Schritte bis zum Becken – und war wieder dreizehn Jahre alt.
Foto:
© ndr.de
Info:
Freibad, Deutschland 2022
Regie: Doris Dörrie
Drehbuch: Doris Dörrie, Madeleine Fricke, Karin Kaçi
Besetzung: Andrea Sawatzki, Maria Happel, Nilam Farooq, Nico Stank, Melodie Wakivuamina, Samuel Schneider u.a.
102 Minuten
Abdruck aus dem Presseheft. Erstveröffentlichung in DIE ZEIT 11/2022