Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Eine warmherzige Preisverleihung für zwei warmherzige Regisseure, von denen an diesem Abend nur Luc Dardenne anwesend war, weil sein Bruder mit dem nächsten Film beschäftigt ist. Im Schaffen der beiden Brüder, die in den letzten Filmen prominente Schauspieler aufboten, wird in diesem Film allein auf die Geschichte und völlig Unbekannte gesetzt, von denen die Hauptfiguren, der kleine Tori (Pablo Schils) und die flügge gewordene Lokita (Joely Mbundu) noch nie gespielt hatten und ihre Aufgabe bravourös meisterten.
Lange glaubt man, eine der wichtigen, aber filmisch schon gewohnten Emigrantenschicksale auf der Leinwand zu sehen. Mit Schleusern sind die beiden, die sich auf der Flucht kennenlernen, aus Afrika nach Belgien gelangt. Unterwegs haben sie sich angefreundet und bei der Registrierung behaupten beide, daß sie als Geschwister aus dem westafrikanischen Benin hierher geflohen seien. Der Kleine Tori hat längst Papiere, aber Lokita glaubt man die Schwesterversion nicht. Die Filmemacher entgehen der Falle, die Behörden als nur stur und böse darzustellen. In den Aussagen der jungen Lokita sind einfach zu viele auffällige Fehlstellen und so wird ihr mitgeteilt, daß ein DNA-Test vorgenommen wird.
Da ist Lokita klar, daß sie sich etwas Neues ausdenken muß und schließlich willigt sie dem italienischen Koch Betim (Alban Ukai) gegenüber ein, für den sie und Tori im ausgeklügelten System Drogen verkaufen, für drei Monate eine besondere Aufgabe zu übernehmen, die Geld bringt und die notwendigen Aufenthaltserlaubnisse, die immer nur Papiere genannt werden. Lokita legt dabei Wert darauf, daß Tori auch während ihrer Abwesenheit regelmäßig die Schule besucht. Sie übt die Funktion einer älteren Schwester faktisch aus und ist auch die Geldgeberin für die Mutter, die zu Hause noch fünf Kinder zu versorgen hat und von der Tochter Geld erwartet. Lokita sitzt in der Falle, weil ihr das Drogengeld im Namen der Religion von den Schleusern abgenommen wird. Sie braucht also dringend Geld und läßt sich auf die ungewöhnlichen Bedingungen ein, mit verbundenen Augen irgendwohin zu einer aufgelassenen Fabrik gefahren zu werden, hinter deren Mauern sich eine Cannabisplantage befindet. Wie radikal sie aber isoliert wird, versteht sie erst, als ihr das Handy abgenommen wird und sie keinen Kontakt mehr zu Tori haben kann, der sie natürlich vermißt. Unglaublich, welche Arbeiten sie mit Wässern und Pflanzen sie jetzt zu verrichten hat.
Der Junge ist schlau und bekommt mit, daß der Koch am Abend Lokita eine Pizza bringen wird, fragt diesen, ob er für Lokita selbstgemalte Bilder mitnehmen könne, was dieser bejaht und ihm den Autoschlüssel gibt, als dieser die Bilder von zu Hause holt. Wie gesagt, der Junge ist schlau, gibt den Autoschlüssel zurück, aber hatte die hintere Tür offengelassen, schlüpft hinein und fährt mit Betim zum isoliert liegenden Hallensystem. Auffällig ist hier erneut, wie die Verbrecherbande, denn der Koch ist nicht allein, zwar verbrecherisch geschildert wird, auch Betim im eigentlichen Sinn Tokita mehrfach vergewaltigt, ihr dafür Geld gibt, aber den beiden, dem Kind und dem jungen Mädchen gegenüber auch nette Züge zeigt und immer wieder auch Zulagen an Geld und Essen gewährt. Auf diese Weise entgehen die Brüder und entgeht der Film einer Schwarz-Weiß-Malerei. Die geschilderten Zustände sind eben so.
Das macht den Film umso dichter, wahrhaftiger. Dazu verhilft auch die Kamera. In den schluchtartigen Gängen der Industrieanlage mit der Cannabisplantage taumeln wir mit den Protagonisten herum und springen und schlängeln uns mit Tori, durch alle Löcher und Absperrungen, der sich von außen in die hermetisch abgeschlossene Anlage mit Chuzpe und Köpfchen Eingang verschafft. Und die Kamera vermittelt auch die klaustrophobische Situation, in der Tokita im kleinen Kämmerlein mit Kühlschrank zwar physisch überleben kann, aber natürlich seelisch Schaden nimmt. Und die Kamera ist auch dabei, als der Koch überraschend kommt, Essen bringt und wie öfter einen Beischlaf auf dem Bett erzwingt, unter dem sich Tori rasch versteckt hat. Und auch hier waltet eine wohltuende Dezenz, denn wir werden mit keinen weiteren Bildern beschäftigt, der Besucher weiß einfach, was nun kommt und der kleine Junge miterleben muß.
Tori ist wieder nach Hause, in seinem Heim und seine Schule gekommen, wird aber Lokita wieder besuchen. Ihr Handy hat er längst präpariert. Als er wieder da ist, werden sie durch die Ankunft des Kochs und des jungen Mannes, der ständig Mittelsmann war beim Überwachen der Plantage, überrascht. Sie fliehen. Es geling ihnen auch. Auf's Erste. Doch dann erkennt Tokita in einem der Autos, das sie anhalten wollen, ihre Feinde und läuft davon. Dem im Gebüsch versteckten Tori ruft sie noch zu, versteckt zu bleiben. Und dann passiert etwas, was der Zuschauer als Schock mit nach Hause nimmt und ein herkömmliches Migrantenschicksal auf einmal zu unser aller Sache macht, nämlich zu unseren euroäischen gesellschaftlichen Zuständen, in denen diese Verbrecher so handeln, wie sie es hier rücksichtlos und lebensfeindlich tun.
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