Vorweihnachtlicher TV-Tipp für Freitag, 16. Dezember 2022 bei Arte
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) - Im Winter 1912 kommt in einem norwegischen Dorf die kleine Eva Arctander zur Welt. Ihre Mutter stirbt bei der Geburt, sie selbst ist von Kopf bis Fuß mit einem hellen Haarkleid bedeckt. Ihr Vater, der Bahnhofsvorsteher Gustav Arctander (Rolf Lassgård) lehnt das Kind ab und sperrt es in seinem Haus ein. Während der nächsten Jahre hat Eva nur Hannah (Kjersti Tveterås) als Bezugsperson, die zuerst Evas Amme und später Arctanders Haushälterin ist.
Da Eva (Aurora Lindseth Løkka) schnell lernt und auch einen wachen Verstand hat, setzt sie mit Hannahs Hilfe durch, dass sie in die örtliche Schule gehen darf. Danach erzählt sie zu Hause nichts von den Übergriffen durch die anderen Kinder, um auf keinen Fall ihre neu gewonnene Freiheit zu gefährden.
Während der ganzen Zeit wird Eva wegen ihrer seltenen Krankheit von Ärzten als Versuchsobjekt benutzt. Bei einem Ärztekongress in Kopenhagen trifft sie (jetzt Mathilde Thomine Storm) auf den selbstbewussten Andrej Bòr (Ken Duken), der als Eidechsenmensch in einem Wanderzirkus arbeitet.
Genau dieser Zirkus namens "Vorstellung der menschlichen Vielfalt" kommt eines Tages in Evas Dorf; in ihm werden Menschen mit Außenseitermerkmalen zu Schau gestellt. Da gibt es unter anderem die siamesischen Zwillinge, den Riesen und die Zwergin, den Affenmann, die bärtige Frau und auch Andrej Bòr, der Echsenmann, tingelt mit der Truppe. Der Zirkusdirektor Johannes Joachim (Burghart Klaußner) bietet Gustav Arctander an, dass seine Tochter auch im Zirkus auftreten kann. Der wirft den Direktor raus, allerdings hat Eva das Gespräch belauscht und sie weiß, dass dies ihre Chance ist, der Enge ihres Heimatdorfes zu entkommen.
Eva (jetzt Ida Ursin-Holm) zieht einige Zeit mit der Truppe durch die Welt und verdient dabei als Löwenmädchen ihr eigenes Geld, das sie eisern spart. Denn es gibt etwas, was die junge Frau gerne erreichen will. Sie möchte mit dem ersparten Geld an der Sorbonne in Paris Mathematik studieren…
Eva Arctanders Gendefekt nennt man Hypertrichose. Es bezeichnet eine Behaarung, die über das geschlechtsspezifische Maß hinausgeht. Es kann - wie in Evas Fall - den gesamten Körper mit Ausnahme der Fußsohlen und Handflächen bedecken. Diese sogenannten "Wolfsmenschen" sind in den letzten Jahrhunderten immer wieder nachgewiesen worden. Früher lebten sie häufig als menschliche Kuriositäten an fürstlichen Höfen, später verdienten sie - wie auch Eva - ihren Lebensunterhalt als Freaks im Zirkus oder auf Jahrmärkten.
Es wird vermutet, dass sowohl der Mythos des Werwolfs als auch Märchen wie "Die Schöne und das Biest", die Grimms Märchen "Der Prinz im Bärenfell" und "Das singende springende Löweneckerchen", "Das Nusszweiglein" von Ludwig Bechstein oder das norwegisches Volksmärchen "Östlich von der Sonne und westlich vom Mond" veröffentlicht 1847 von Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Moe mit diesem Phänomen zusammen hängen.
Die norwegische Regisseurin Vibeke Idsøe des Dramas hat selbst das Drehbuch für "Das Löwenmädchen" verfasst. Es beruht auf dem Roman gleichen Namens, den der norwegische Autor Erik Fosnes Hansen 2006 veröffentlicht hat. Ebenso wie im Roman ist der Film in drei Teile gegliedert: Eva als Baby, als etwa 7jährige und als 14jährige incl. ihres Fortgangs aus dem Dorf und ihr Leben als Erwachsene.
Der Regisseurin zeichnet dabei ein einfühlsames Porträt einer Außenseiterin, die es aber durch ihre Intelligenz schafft, sich nicht nur in ihrem heimatlichen Umfeld zu behaupten, sondern der es auch gelingt, ihren Traum zu verwirklichen und einen ihren Fähigkeiten adäquaten Beruf zu ergreifen, der zudem eigentlich nicht gerade typisch für Frauen ist.
Die drei jungen Schauspielerinnen - Aurora Lindseth Lokka (Eva mit 7 Jahren), Mathilde Thomine Storm (Eva mit 14 Jahren) und Ida Ursin-Holm (Eva als junge Frau), die das Mädchen in den verschiedenen Lebensaltern verkörpern, spielen ihre Rollen sensibel und absolut glaubhaft. Sie werden aber jederzeit von Rolf Lassgård als Evas Vater Gustav Arctander übertroffen, der als kleinlicher und strenger Bahnhofsvorsteher, der sich erst langsam seiner Tochter annähern kann, eine beeindruckende darstellerische Leistung zeigt.
Alle anderen Schauspieler haben nur kleine Rollen, in denen sie eigentlich nicht glänzen können. Das gilt vor allem für Kjersti Tveterås als Hannah, Evas Amme und spätere Hausangestellte bei Arctanders, aber auch für Ken Duken als Echsenmann Andrej Bòr, Burghard Klausner als Johannes Joachim, dem Leiter des Wanderzirkus, und Connie Nielsen als Mrs. Grjothornet, eine Frau, die Eva während einer Kur ihres Vaters trifft und die ihr hilft, ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Alles in Allem ist "Das Löwenmädchen" eine spannende, gut gemachte und unterhaltsame Emanzipationsgeschichte, selbst wenn sie sich filmisch im traditionellen Rahmen bewegt. Dabei geht es in dem Film nicht allein darum, wie die Umwelt auf Evas Hypertrichose reagiert, sondern auch wieweit sie selbst bereit ist, ihre Andersartigkeit zu akzeptieren, mit ihr umzugehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
"Das Löwenmädchen" ist ein interessanter und ungewöhnlicher Film über eine Außenseiterin, der von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat "wertvoll" ausgezeichnet wurde. Er ist ein Plädoyer für die Würde und die Selbstbestimmung des Menschen. Wenn jetzt hier das Wort "Inklusion" fällt, sieht man, wie modern die Story eigentlich ist. Auch wenn der Film vor etwa 100 Jahren angesiedelt ist, hat die Geschichte doch nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie ist zwar konventionell aber trotzdem mitreißend erzählt und deshalb auf jeden Fall auch in der Adventszeit zu Hause sehenswert.
Foto 1: Eva (Aurora Lindseth-Løkka, vo.) mit ihrer Amme Hanna (Kjersti Tveterås, Mi.) und ihrem Vater Gustav Arctander (Rolf Lassgård, re.) © Arte
Foto 2: Der ″Echsenmann″ (Ken Duken, re.) ist ebenso Teil des Wanderzirkus, dem nun auch Eva beitreten will. © Arte
Foto 3: Eva (Ida Ursin-Holm) verdient sich als Teil eines Wanderzirkus ihren Lebensunterhalt. © Arte
Info:
Das Löwenmädchen (Norwegen, Deutschland, Schweden 2016)
Originaltitel: Løvekvinnen
Genre: Drama, Romanverfilmung
Filmlänge: ca. 113 Min.
Regie: Vibeke Idsøe
Drehbuch Vibeke Idsøe nach dem Roman Løvekvinnen (2006) von Erik Fosnes Hansen.
Der Roman ist in Deutschland 2008 als Das Löwenmädchen bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Außerdem gibt es "Das Löwenmädchen" auch als Audiobook, gelesen von Anna Thalbach.
Darsteller: Rolf Lassgård, Aurora Lindseth Løkka, Mathilde Thomine Storm, Ida Ursin-Holm, Kjersti Tveterås, Ken Duken, Burghart Klaußner, Connie Nielsen u.a.
FSK: ab 12 Jahren
"Das Löwenmädchen" wird am Fr. 16.12.2022 um 20:15 Uhr und am Sa. 24.12.2022 um 14:10 Uhr im Rahmen des Advents- und Weihnachtsprogramms bei Arte gezeigt. Das Drama ist vom 16.12.2022 bis zum 14.01.2023 auch in der Arte Mediathek abrufbar.