stille postSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom Mittwoch 14. Dezember 2022, Teil 3

Redaktion 

Berlin (Weltexpresso) - Wer weiß noch, wie wichtig, ja geradezu entscheidend früher die Bewertung der Filme durch die Filmbewertungsstelle war, vor allem, ob jugendfrei oder nicht! Drei unterschiedliche Jurys haben zu diesem Film ihre Meinung zu besonderen Aspekten geäußert. 

Die Jurybegründung Filmbewertungsstelle FBW, Prädikat „Besonders wertvoll“


Das Diktum „Das erste Opfer eines Kriegs ist die Wahrheit“ wurde schon im Ersten Weltkrieg geprägt und heute wirkt es angesichts von Fake News und massenhaft organisierter Falschinformation fast schon naiv und überholt. Doch der erste Schritt von der Wahrheit zur Lüge ist und bleibt ein Sündenfall, und davon erzählt Florian Hoffmann in seinem bemerkenswerten Spielfilm, dessen Titel dann auch genau passt, denn wie in dem Kinderspiel verändert sich auch hier eine Information dadurch, dass sie über verschiedene Stationen und Akteure übermittelt wird. Der Protagonist Khalil ist Kurde und hat sich im Exil in Berlin nahezu perfekt assimiliert. Er arbeitet
als Grundschullehrer, und lebt zusammen mit seiner deutschen Freundin, der Journalistin Leyla. Als Leyla Kriegsvideos aus Khalils kurdischer Heimatstadt Cizre
zugespielt bekommt, glaubt er auf Handyaufnahmen seine Schwester zu erkennen, von der er glaubte, dass sie vor vielen Jahren gestorben ist. Khalil will sie finden, indem er diese Aufnahmen öffentlich macht.

Seine Freundin hilft ihm dabei, und verliert dabei schnell ihre professionelle Distanz. Und Khalil bringt die Situation völlig aus seinen gewohnten Bahnen. Florian Hoffmann erzählt sehr authentisch: die verschiedenen Milieus wie etwa die Nachrichtenredaktion eines Fernsehsenders, eine Berliner Grundschule oder eine kurdische Exilgemeinschaft werden so unmittelbar und detailreich wie in einem gelungenen Dokumentarfilm präsentiert und die Darsteller*innen wirken bis in die Nebenrollen hinein sehr lebendig und glaubwürdig. Da gibt es keinen falschen Ton und es ist spürbar, wie intensiv sich Hoffmann, der auch das Drehbuch verfasste, in die Materie eingearbeitet hat. So gelingt es ihm, das Lebensgefühl von Kurd*innen in Deutschland zu vermitteln, die oft unerkannt unter den Türken leben und unter deren
Feindseligkeit und offen gelebter Aggression leiden. Ein erhellendes Beispiel dafür ist die Geschichte von den verräterischen Grübchen, an denen Türken glauben, Kurden erkennen zu können. Hoffmann erzählt packend und komplex. Khalil und Leyla sind mit einem liebevollen Blick als Sympathieträger gezeichnet, und umso tragischer wirkt es dann, wenn sie sich immer tiefer in ihre fehlgeleitete Kampagne verstricken. Aber auch alle anderen Charaktere zeichnet Hoffmann mit Empathie. Es gibt keine Schurken, keine Täter in diesem Film – denn das wäre zu einfach gedacht. Hoffman urteilt nicht, er versucht zu erklären. So ist ihm ein zugleich emotional packender und kluger Film gelungen, der die Jury mit seiner erzählerischen Kraft und stilistischen Souveränität begeistert hat.



Achtung Berlin Drehbuch-Jury (Jenny Alten, Judith Westermann, Lena Kammermeier): Bestes Drehbuch.

Ein Drehbuch, das wie eine verstörend präzise Landkarte den Weg bereitet hin zu einer Welt, die uns anders kaum möglich wäre zu sehen, zu erfahren, zu betreten. Ein Drehbuch, durchdrungen von außergewöhnlicher Recherche und persönlicher Verbundenheit, die dennoch nicht den Blick verstellt für kritische Fragen, welche die Fassade durchdringen und die Ambivalenzen freilegen im Kampf um Freiheit und Deutungshoheit. Dabei werden die klassischen Mittel der Narration zur Erzeugung von Nähe und Emotionalität genauso genutzt wie die Wucht der Unmittelbarkeit dokumentarischer Aufnahmen, die sehr bewusst und genau dosiert in die Erzählung eingebunden und gelungen mit den fiktiven Figuren und ihren Konflikten verwoben werden. Eine Unterwanderung von Genres, die das Hybride und Komplexe nicht nur auf formaler, sondern ebenso auf inhaltlicher Ebene wagt. Ein Grenzgang, ein mutiges und berührendes Plädoyer dafür, unseren eigenen Blick auf weltpolitische Geschehnisse zu hinterfragen.

Mit genauem Blick und klarer Haltung zeigt das Drehbuch die Situation der Kurd:innen in Cizre und im deutschen Exil und macht durch seine Protagonist:innen die Konsequenzen von Krieg sichtbar: Verlust, Einsamkeit, Haltlosigkeit. Wie furchtbar muss das Gesehene, müssen die Bilder sein, um von denen wahrgenommen zu werden, die das Privileg haben, Zuschauende zu sein?


Achtung Berlin Jury (Luzie Loose, Jasper Mielke, Kara Schröder): Bester Schauspieler.

Der Spieler, den wir auszeichnen, stellt sich seiner Figur komplett zur Verfügung. Sein Spiel ist mutig und persönlich. Er macht sich verletzlich und zeigt eine Hingabe für die Figur und für den Beruf, die uns berührt und durch den gesamten Film trägt. Er spielt einen Mann, der zerrissen ist zwischen den Welten, den Kulturen, der sucht und nicht weiß, ob er ein Kämpfer sein kann. Doch er, der Schauspieler, weiß alles über diese Figur. Hinter jeder Handlung steckt ganz sichtbar und spürbar ein Gedanke.
Dennoch wirkt sein Spiel intuitiv und nie auf die eigene Wirkung bedacht. Auch in kleinen Szenen, kurzen Begegnungen und in jeder Beziehung zum Gegenüber erzählt er uns eine ganze Welt. Er steht am Küchentisch und berührt eine Speicherkarte mit Filmmaterial, das seine lang verloren geglaubte Schwester gefilmt haben soll, und tut das auf eine Art als könne er die Hand der Schwester selbst wieder halten. Diese Feinheit und Genauigkeit zeichnen ihn als Spieler aus. Nicht zuletzt geht dieser Preis an Dich, weil diese Arbeit politisch ist. Du sagst, wir leben in einer Zeit, in der wir unterscheiden zwischen guten und schlechten Kriegen, zwischen guten
und schlechten Geflüchteten. Wir hoffen mit Dir, dass euer Film gesehen wird, dass er Aufmerksamkeit schafft für den Konflikt in Kurdistan und wir diese Unterscheidungen hinter uns lassen werden.

Foto:
©Verleih