Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Dezember 2022, Teil 4
Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - EIN GESPRÄCH MIT ARON LEHMANN & MARIANA LEKY: Ihr Roman entfaltet einen ganz eigenen Zauber, er ist eine ganz besondere Leseerfahrung. Konnten Sie sich vorstellen, dass dieser Stoff verfilmt werden würde?
Mariana Leky: Nein, das konnte ich mir zunächst nicht so einfach vorstellen. Einfach aus dem Grund, weil es
gar nicht so sehr darum geht, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Die Erzählstimme in filmische
Bilder zu setzen, das sah ich nicht. Aron hat mich jedoch eines Besseren belehrt...
Im Kino wird der Zuschauer im besten Fall von der Magie der Bilder in den Bann
gezogen. WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN lebt von einer ganz eigenen
Magie, einem eigenen Zauber. Wie übersetzt man das für einen Kinofilm? Wie nah
muss man am Buch bleiben, wie weit darf man sich entfernen?
Aron Lehmann: Ich würde es anders beschreiben: Im besten Fall wir der Zuschauer von der Magie in den
Bildern in den Bann gezogen. Für mich als Regisseur steht das Gefühl immer an oberster Stelle... Ich sehe
mich in erster Linie als Geschichtenerzähler. Bei Marianas Roman hat mich das Gefühl interessiert, das er
transportiert. Bei aller Düsternis, bei allem Leid und Unheil, das passiert – ein Kind stirbt, Eltern trennen sich,
der Vater geht: die Geschichte stellt sich mit so viel Liebe und Humor dagegen! Genau das war es, was
mich reizte, auf die Leinwand zu bringen. Solche Geschichten über Liebe und Zuneigung und Wärme
haben wir gerade dringend nötig. Düsternis wird es in unserem Leben sowieso immer geben. Da kommen
wir nicht dran vorbei.
Mariana Leky: Zur Magie der Bilder möchte ich auch etwas sagen. Mir ist noch genau vor Augen, wie mir
Aron damals die ganze Ausstattung anhand von Moodboards und Bildern von Orten gezeigt hat, lange
bevor der ganze Dreh überhaupt losging. Das war fast unheimlich – auf eine gute Art! –, weil ich das
Gefühl hatte, als wäre jemand in meinen Kopf hineingekrochen und hätte da drin alles fotografiert, solche
Orte gefunden, wie sie mir vorgeschwebt waren, wie es hätte sein können. Das war für mich ein
großartiges Erlebnis. Zum Beispiel spielt ein Schulranzen eine Rolle. Der Schulranzen, den Aron mir
präsentierte, sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Das war toll. Ich hätte nicht gedacht, dass
das wirklich möglich ist.
Aron Lehmann: Ich weiß noch, als du bei der Kostümprobe warst und diese blaue Jacke von Selma
gesehen hast, die dich total aus der Fassung gebracht hat...
Mariana: Ja, das war exakt die Jacke, die ich von alten Frauen im Westerwald kannte!
Fühlt man sich geehrt, wenn man weiß, dass sein Buch filmisch verarbeitet wird, Frau
Leky? Oder schwingt da auch eine gewisse Angst mit?
Mariana Leky: Erst einmal ist es eine sehr schöne Nachricht, wenn man erfährt, dass das eigene Buch
verfilmt werden soll. Klar macht man sich auch ein bisschen Sorgen, ob und wie das dann läuft, wie weit
sich eine Verfilmung vom Buch entfernt, wie viel von diesem Gefühl übrigbleiben wird, das Aron
angesprochen hat.
Was empfinden Sie als ureigene Qualität des Romans? Wie wollten Sie ihr filmisch gerecht werden?
Aron Lehmann: Ich finde außergewöhnlich, wie diese Geschichte all den Dramen, die geschehen, mit einem
warmherzigen Lächeln begegnet. In was ich mich sofort verliebt habe, waren die Figuren. Ich verspürte den
dringenden Wunsch, jede einzelne davon kennenlernen zu wollen. Es war eine besonders große Freude
beim Besetzungsprozess, zusammen mit den Schauspielern, diese Figuren gemeinsam lebendig werden zu
lassen, für den Film zu erschaffen. Mariana hat auch so wunderschöne Dialoge geschrieben, die ich oft eins
zu eins ins Drehbuch übernehmen konnte. Ich fühlte mich, als säße ich vor einem Topf mit Rosinen, aus dem
ich mir die allergrößten aussuchen durfte.
Mariana Leky: Zu den Dialogen gibt es eine schöne Geschichte: Als ich das Drehbuch las, hat mir ein Satz
wahnsinnig gut gefallen. Ich beglückwünschte Aron im Anschluss dazu. Er sagte nur: „Der stammt ja auch
von dir!“ Ich hätte schwören können, dass er nicht von mir kam, und bis heute ist das nicht ganz geklärt. Das zeigt, wie sehr wir beide im Einklang waren und den gleichen Ton gefunden haben. Am Schluss konnte man nicht mehr genau sagen, wer was beigesteuert hat.
Aron Lehmann: Sobald ich eine Fassung fertig hatte, schickte ich sie immer erst Mariana, bevor ich mit
Produktion und Verleih das Gespräch gesucht habe. Ihr Input war mir wichtig, die Stunden, in denen wir
telefoniert haben, um über die Geschichte, die Figuren zu sprechen, waren mir heilig. Auch ich kann heute
ganz viel gar nicht mehr auseinanderhalten, welche Dialogzeile von wem kam. Dieser Satz, den Mariana
erwähnte, fällt am Schluss, als Frederik sich entfernt und Marlies Luise fragt, ob das jetzt heißt, dass er bleibt
oder dass er geht. Und Luise antwortet: „Er bleibt, er muss sich das nur noch überlegen...“ Der ist von
Mariana, kommt aber so nicht im Roman vor. Es gab so viele Überschneidungen in unserer
Zusammenarbeit, die ich als richtig schöne kreative Begegnung bezeichnen würde, bei der im Vordergrund
stand, aus dem Roman eine Geschichte in Bildern und für die Leinwand zu erzählen. Es ging nicht darum
festzuhalten, das ist deins, das ist meins. Wie wir wissen, sind das bürgerliche Kategorien. Das, was mich mit
Mariana über den Roman hinaus verband, kam einer wunderschönen Inspiration gleich.
Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit Aron Lehmann erlebt, Frau Leky?
Mariana Leky: Ich hatte ein großes Vertrauen zu Aron. Ich habe von Anfang an bewusst gesagt, als noch
gar nicht klar war, dass Aron Lehmann für Adaption und Regie verantwortlich zeichnen würde, dass ich
nicht am Drehbuch mitarbeiten möchte. Drehbuchschreiben ist eine eigene Kunst, die ich nicht beherrsche.
Ich habe den Roman geschrieben, aber Drehbuch kann ich nicht. Für mich war es sehr schön, aus der Ferne
immer wieder einzutauchen. Aron hat mich viel gefragt, mich immer wieder eingebunden. Das war sehr
beruhigend.
War diese Nuss schwer zu knacken bei der filmischen Umsetzung, Herr Lehmann?
Aron Lehmann: Die Entscheidung für dieses Projekt fiel mir wahnsinnig leicht. Ich hatte große Lust, diesen
Roman in eine andere Kunstform zu übersetzen. Als Sohn eines Buchhändlers hat man eine große Demut
vor der Vorlage. Andererseits weiß ich als Filmregisseur, dass Geschichten auf dem Papier anders
funktionieren als auf der Leinwand. Ich wusste, dass ich die Erzählstruktur verändern muss, um die Vorlage
in eine stimmige Story von eineinhalb bis zwei Stunden Länge zu bekommen. Bei einem abendfüllenden
Spielfilm kann man nicht links und rechts abbiegen. Das ist das Schöne bei Romanen: Man kann mal hierhin,
mal dorthin schweifen und muss die Leser nicht ganz so an die Hand nehmen wie die Zuschauer beim Film.
Du kannst Lesern viel mehr zumuten, kannst sie auf bunte Abzweigungen mitnehmen. Beim Roman ist mehr
Raum für das Drumherum möglich, was ihn auch nicht austauschbar macht. Letztendlich ist ein Spielfilm
immer eher eine Erzählung oder eine Kurzgeschichte. Ein Spielfilm kann nie ein Roman sein. Eine Serie kann
vielleicht ein Roman sein. Beim Spielfilm muss man sich für einen Kern entscheiden. Dieser Kern war für mich
dieses unglaublich schöne Märchen über Liebe und Tod, über Vergänglichkeit und Neuanfang.
Wie sind Sie bei der Adaption vorgegangen? Gab es ein erstes Bild, von dem Sie
ausgingen?
Aron Lehmann: Weniger ein Bild, mehr ein Gefühl. Um den beschriebenen Kern habe ich die Geschichte
herumgepuzzelt. Wichtig war mir, an dem Ton und dem Gefühl des Romans festzuhalten. Sonst hätte es
keinen Sinn ergeben. Hätte ich gemerkt, dass ich das, was mich berührt, nicht auf die Leinwand bringen
kann, hätte ich davon die Finger gelassen. Deshalb war mir im Drehbuchprozess stets Marianas Feedback
wichtig, unser Pingpong-Spiel bei Fragen zur Veränderung der Struktur, ob ich eine Szene im Roman im Film
einer anderen Figur zuschreiben kann. Ich habe jede Szene auf diesen Kern von Liebe und Tod, von
Vergänglichkeit und Neuanfang abgeklopft. Nur so hat man eine Chance, dieses Gefühl, das der Roman
auslöst, in ein anderes künstlerisches Medium zu übersetzen.
Was war Ihr Impetus beim Schreiben des Romans, Frau Leky?
Mariana Leky: Im Grunde das, was Aron als Kern beschrieben hat. Ich hatte erst die sehr schwammige
Idee, etwas über Liebe und Tod zu schreiben, wobei ich mir im nächsten Schritt überlegen musste, wie ich
diese Schwammigkeit konkreter machen kann. Ich habe dann Luise erfunden, eine Hauptfigur, die vor der
Liebe genauso viel Angst hat wie vor dem Tod. Das war ein Kern der Geschichte. Wenn man erst mal eine
Figur hat, kommen die anderen dazu. So ein Kosmos gestaltet sich wie ein Mobile, wenn sich eine Figur
bewegt, müssen sich die anderen auch bewegen. Das umspannende Thema Liebe und Vergänglichkeit
habe ich nie aus dem Auge verloren. Das offenbart sich auch an den beiden Liebesgeschichten, die ich
erzähle, zwischen dem Optiker und Selma und zwischen Frederik und Luise. Mir wurde sehr schnell klar,
dass man über Liebe nichts erzählen kann, wenn man nicht auch den Tod miterzählt.
Fortsetzung folgt
Foto:
©Verleih
Info:
DARSTELLER
Corinna Harfouch
Luna Wedler
Karl Markovics
Rosalie Thomass
Benjamin Radjaipour
Hansi Jochmann
Peter Schneider
u.v.va.
STAB
Regie: Aron Lehmann
Drehbuch: Aron Lehmann / nach dem gleichnamigen Roman von Mariana Leky
WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN
Genre: Drama
Produktionsjahr: 2022
Produktionsland: Deutschland
FSK: Freigegeben ab 12 Jahren
Lauflänge: 109 Minuten
Kinostart: 29.12.2022