abasiSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 12. Januar 2023, Teil 5

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) –  Sie sind gebürtiger Iraner und haben während der Mordserie von Saeed Hanaei im Jahr 2001 in Iran gelebt. Was hat Sie an seiner Geschichte fasziniert?


ALI ABBASI: 2001 hatte ich noch einen Fuß in Iran, bereitete mich aber bereits auf meinen Umzug nach Europa vor, wo ich studieren wollte. In dieser Zeit hatten wir einen gegenüber Reformen aufgeschlossenen Präsidenten, Mohammad Khatami, der das Land politisch und kulturell geöffnet hatte; es herrschte also eine allgemeine Stimmung der Hoffnung vor. Dann passierte 9/11, und kurz davor gab es die Mordserie von Saeed und seine Verhaftung. Diese beiden Ereignisse hängen nicht miteinander zusammen, aber sie fühlten sich merkwürdiger als Fiktion an, als würden sich die Realität und Hollywood nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Als die Morde im Jahr davor begonnen hatten, hatte ich noch nicht so viel Notiz davon genommen. Serienmorde gibt es immer wieder in Iran. Es mag wohl am Land
liegen, aber Verbrechen ist an der Tagesordnung. Mein Interesse an der Geschichte wurde geweckt, als sich Menschen in der Öffentlichkeit auf Saeeds Seite schlugen, er von ihnen als Held gefeiert wurde. Sie sagten, es sei seine religiöse Pflicht gewesen, diese weiblichen Prostituierten in Maschhad zu töten. Das brachte ich nicht zusammen: Da war ein Mensch, der viele Frauen ermordet hatte, und in der Öffentlichkeit wurde eine Debatte vom Zaun gebrochen, ob er etwas falsch gemacht hatte oder nicht.


Was schockierte Sie am meisten an der Geschichte?

ALI ABBASI: Als ich mir Maziar Baharis Dokumentation AND ALONG CAME A SPIDER angesehen hatte, die 2002 erschien, nach Hanaeis Hinrichtung – man kann sie auf YouTube finden – , stellte ich fest, dass ich auf ganz eigenartige Weise mit dem Mörder sympathisierte. Ich hatte einen Typ erwartet wie Buffalo Bill, den Killer in DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER. Aber Saeed hat Charisma und kam rüber, als wäre er naiv oder gar unschuldig. Weil ihn niemand auf einen Auftritt in den Medien vorbereitet hatte, sagte er Dinge vor laufender Kamera, die nicht in seinem Interesse waren. Aber er schien glücklich und hatte seinen Frieden gemacht mit seinen
Verbrechen. Er war kein manipulativer Bösewicht; er kam ehrlich rüber, aufrichtig. Ich will damit nicht sagen, dass ich mochte oder in irgendeiner Form guthieß, was er getan hatte. Aber es machte die Geschichte und auch ihn als Menschen komplizierter, als ich zunächst vermutet hatte.


Ihre Geschichte dramatisiert die Ereignisse. Sie führen eine Journalistin aus Teheran ein, die nach Maschhad reist, um die Mordreihe zu recherchieren.


ALI ABBASI: In gewisser Weise existierte die Journalistin Rahimi bereits. In Maziar Baharis Doku gibt es eine Journalistin, die vor laufender Kamera über den Fall spricht, und vor allem auch Saeed interviewt. Obwohl sie aus Maschhad kommt, recherchierte sie aber nicht die Mordfälle. Sie berichtete über den Prozess und schrieb einen ausgezeichneten Artikel über seine Hinrichtung, der eine wichtige Inspirationsquelle für mich war. Sie schrieb, seine letzten Worte seien „Das war nicht unsere Abmachung“ gewesen, und deutete damit an, es könne womöglich Gekungel mit den Autoritäten gegeben haben.


Wie entwickelte sich Ihre Version der Geschichte? Wie veränderte sie sich im Lauf der Zeit?


ALI ABBASI: Auf die eine oder andere Weise habe ich fast 15 Jahre an der Geschichte gearbeitet. Frühe Fassungen hielten sich sehr eng an die wahren Ereignisse. Bis ich mir die Frage stellte, warum ich diesen Film machen wollte. Ich wollte nicht die Ereignisse einfach nachstellen, es ging mir um größere Zusammenhänge. Nach und nach erlaubte ich es mir, mehr von der tatsächlichen Geschichte abzuweichen, weil es mein Eindruck war, dass es nicht einfach um Saeed gehen durfte. Es geht um Misogynie, um Hass auf Frauen. Die Figur Rahimis wurde so wichtig wie Saeed. Dramaturgisch fühlte es sich richtig an, dass sich ihre Wege kreuzen würden.


Saeed wird sehr früh im Film als Täter identifiziert. Damit brechen sie mit den Regeln konventioneller Thriller. Ihr Film ist kein Whodunit.

ALI ABBASI: In einem geradlinigen Serienmörderfilm gibt es einen durchgeknallten Killer und einen coolen, unerschütterlichen Polizisten oder Journalisten, der daran arbeitet, den Verstand des Mörders zu verstehen und damit dem Publikum näherzubringen. Der Verbrecher wird im Verlauf der Zeit offenbart, eben wie in DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER. Aber der Höhepunkt von Saeeds Geschichte war für mich immer der Umstand, dass er von vielen Menschen als Held gefeiert wurde. In dieser Geschichte geht es nicht um das Geheimnis eines Serienmörders – es geht um die Banalität von Saeeds Leben, wie gewöhnlich und ungebildet er war. Das ist für mich viel interessanter als eine fast mythische Figur wie Buffalo Bill.


Die Stadt Maschhad ist wie eine weitere Hauptfigur des Films. Wie stehen Sie zu ihr?



ALI ABBASI: Ich habe nie in Maschhad gelebt, war aber wiederholt zu Besuch. Es ist die zweitgrößte Stadt Irans, eine der heiligsten Stätten schiitischer Moslems befindet sich dort, der Imam-Reza-Schrein, der auch die größte Moschee der Welt ist. Es ist eine reiche Stadt in der Nähe der afghanischen Grenze, sehr international, weil hier Pilger aus der ganzen Welt empfangen werden, aber sie liegt auch auf der Drogenroute von Afghanistan nach Europa. Es ist eine industrielle Großstadt mit einer dunklen Kehrseite, aber eben auch ein berühmtes religiöses Zentrum. Prostitution findet sich an allen Straßenecken. Man muss noch nicht einmal in ein bestimmtes Viertel gehen. Frauen bieten sich auf offener Straße an, selbst in der Nähe der Moschee. Mein Eindruck ist, dass Prostitution toleriert wird, weil sie ein Wirtschaftsfaktor ist, Teil der Tourismusindustrie von Maschhad. Das Gesetz schaut weg.


Erzählen Sie über die „Spinne“ im Titel.

ALI ABBASI: Es gibt eine doppelte Bedeutung. In der iranischen Presse spricht man über Saeed als „Spinnenkiller“, weil er seine Opfer in sein Netz lockte, oft in seine eigene Wohnung. Die Metapher stammt daher. Aber als ich nach Maschhad flog, sah ich den berühmten Schrein in der Mitte der Stadt, und aus der Luft sah es aus wie ein Netz. Saeed hat die Moschee wohl oft besucht, und viele der Opfer fand er in ihrer Nähe. Die Idee, dass er sein Netz verlässt und seine Opfer in die Dunkelheit zerrt, war ein sehr starkes Bild für mich, weil er ja davon überzeugt war, heilige Arbeit zu verrichten.


Die Kehrseite von Maschhad haben Sie sehr eindringlich zum Leben erweckt. Ihr Film ist so noir, wie es nur möglich ist.

ALI ABBASI: Man muss nicht sehr tief graben, um auf das Prekariat der iranischen Gesellschaft zu stoßen. Ich liebe den Film noir als Genre und wollte aus den bekannten Elementen eine Art persischen Noir entstehen lassen. All die verlorenen Seelen, geplatzten Träume und dunklen Orte, die sich im Nachkriegs-Amerika finden lassen, gehören zum Alltag in den meisten Städten Irans. Ich wollte eine Sprache und Ikonographie finden, die aus dem Ort selbst entstehen, in diesem Fall Maschhad, anstatt wie bei Humphrey Bogart mit CASABLANCA oder CHINATOWN oder David Finchers ZODIAC.


Warum ist dieser Film eine Bedrohung für Iran?

ALI ABBASI: Es ist nicht so, als hätten wir einen allzu expliziten Film gemacht. Aber es ist einer von wenigen Filmen, die in Iran spielen, die einen gewissen Realismus rüberbringen. Das iranische Kino leidet seit 50 Jahren unter drakonischen Zensurmaßnahmen. Alle Filme, die man sieht, zeigen eine parallele Realität des Landes, wie Filme aus der Sowjet-Ära. Fast alle halten sich an ein bestimmtes geschriebenes und ungeschriebenes Regelwerk, selbst Filme, die eine kritische Position zur iranischen Regierung beziehen. Die Tabus, die niemals gebrochen werden in iranischen Filmen, sind Nacktheit, Sex, Drogengebrauch und Prostitution. Und doch gehören sie eindeutig zur Realität der iranischen Gesellschaft. Und sie sind relevant für meine Geschichte, bestimmen die Atmosphäre der Erzählung.


Sind Ihre Schauspieler bekannt in ihrer Heimat?

ALI ABBASI: Saeed wird von dem Bühnen- und Filmschauspieler Mehdi Bajestani dargestellt. Er geht ein großes Karriere-Risiko ein. Es war mir wichtig, einen Schauspieler zu besetzen, der zumindest ein bisschen ein ähnliches Leben geführt hat wie der reale Saeed. Mehdi kommt aus der Gegend um Maschhad und kennt den Arbeiterklasse-Akzent, den Saeed gesprochen hatte. Außerdem ist er ein toller Schauspieler, der offen war, bei seiner Darstellung Dinge zu tun, die in Iran tabu sind. Das westliche Publikum hat keinen Referenzrahmen, wie riskant seine Darstellung ist, aber eine Entsprechung wäre ein Hollywoodstar, der einen Pädophilen spielen muss, den man im Film beim Ausleben seiner sexuellen Fantasien sieht. Er versucht außerdem, eine höchst widerliche Figur menschlich zu spielen. Das ist ein weiteres Risiko.


Ihre Hauptdarstellerin hat Iran verlassen und lebt mittlerweile in Paris. Was ist ihr Hintergrund?

ALI ABBASI: Zar Amir Ebrahimi war von Anfang an meine Mitstreiterin, meine Vertraute, meine Weggefährtin. Wenn es eine andere Person neben den Produzenten und mir gibt, die für diesen Film Autorenschaft reklamieren darf, dann ist es sie. Sie war ein riesiger Fernsehstar in Iran in den frühen 2000er-Jahren, aber dann wurde ein explizites Privatvideo von ihr in die Öffentlichkeit gespielt, was damals etwas völlig Neues war in diesem sehr konservativen Land.

Die Menschen begannen, das Video auf den Straßen zu verkaufen, was das Ende ihrer künstlerischen Karriere bedeutete. Sie fand keine Arbeit mehr, wurde verurteilt und floh aus dem Land. Anfangs half sie mir bei der Besetzung von HOLY SPIDER, aber dann mussten wir auf den letzten Drücker die Hauptrolle umbesetzen und eine neue Rahimi finden. Ich konnte mir keine Bessere für den Part vorstellen als Zar. Mit ihr an Bord veränderte sich die Figur total. Zar ließ viele ihrer privaten und öffentlichen Enttäuschungen und Frustrationen in ihre Darstellung einfließen, all die Dinge, die ihr widerfahren waren, als das Video an die Öffentlichkeit kam.


Vermutlich hatten Sie keine Illusion, den Film in Iran selbst drehen zu können…

ALI ABBASI: Ich habe es versucht! Ich besuchte Iran und war den Behörden gegenüber ganz offen und transparent. Ich gab ihnen das Drehbuch zu lesen und versprach ihnen, dass ich bereit sei, innerhalb des iranischen Regelwerks zu arbeiten und gewisse Kompromisse einginge, wenn ich den Film an Originalschauplätzen würde drehen können. Es war mir sehr wichtig, die Authentizität und die Atmosphäre von Maschhad einzufangen. Sie sagten nicht zu, aber sie sagten auch nicht ab, was ihre Art und Weise ist, nein zu sagen. Nach einem Jahr des Wartens musste ich einen anderen Ort finden, um den Film zu drehen.


Zunächst versuchten Sie es in der Türkei, aber schließlich entstand der Film in Jordanien.


ALI ABBASI: Erdogans Kulturpolitik war ohnehin eine Bedrohung für unsere Produktion. Die iranische Regierung hatte Wind von unseren Drehabsichten bekommen und sorgte dafür, dass die Türken uns aus dem Land warfen, nachdem wir bereits einen Monat lang nach Drehorten gesucht hatten – manche Orte nahe der syrischen Grenze haben eine ähnliche Atmosphäre wie Maschhad. Schließlich drehten wir in Amman, Jordanien. Entscheidend für mich war, die Kehrseite von Maschhad auf überzeugende Weise zeigen zu können, und Jordanien hatte alles, wonach wir suchten. Es ist ein relativ unscheinbarer Ort und ähnelt beinahe jedem Teil des Nahen Osten, abhängig davon, wo man hinschaut.
 

Wie beeinflusste der Dreh in Jordanien Ihr Szenenbild, besonders bei den Außenaufnahmen?

ALI ABBASI: Wir hatten ein ziemlich knappes Budget, und aus politischen und sicherheitstechnischen Gründen konnten wir nicht viele Requisiten aus Iran verwenden, also mussten wir uns Maschhad im Rahmen unserer Möglichkeiten in Amman annähern. Wir entfernten Schilder und Fahnen an gewissen Orten und fügten Poster und Beschilderung hinzu, um eine Anmutung von Iran zu erzielen. Das funktionierte verblüffend gut, weil viele Teile von Jordanien eine eher undefinierbare industrielle Atmosphäre ausstrahlen – genau das, wonach wir gesucht hatten.


Das Sounddesign und die Musik erschaffen eine ganz eigene Atmosphäre und erwecken Maschhad auf sehr ungewöhnliche Weise eindringlich zum Leben.

ALI ABBASI: Ich wollte einen modernen, zeitgemäßen Score, und er sollte punktgenau zu dem groben, industriellen Teil von Maschhads Schattenseiten passen. Das eine durchgehende klangliche Element ist Saeeds Motorrad, und die Musik erwuchs organisch aus diesem knatternden Motorenklang. Unser dänischer Komponist Martin Dirkov bestand darauf, ethnische Musik unbedingt zu vermeiden, wie man sie in einer amerikanischen Produktion, die im Nahen Osten spielt, garantiert eingesetzt hätte. Unsere Inspiration war Grunge-Musik der Neunzigerjahre ebenso wie Industrial-Musik. Er drehte diese musikalischen Einflüsse in eine nicht-westliche Richtung. Anstatt also auf ein spezifisches Instrument oder eine besondere Tonalität zurückzugreifen, fand er eine Sensibilität, die man als iranischen Grunge
beschreiben könnte.


Was soll das Publikum aus HOLY SPIDER mitnehmen?

ALI ABBASI: Ich will nicht, dass die Menschen meinen Film als einen Botschaftsfilm begreifen, auch wenn Misogynie und Dehumanisation Themen sind, denen wir nachgehen. Meine Absicht war es, der iranischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Dieser Spiegel mag vielleicht dreckig oder zerbrochen sein, aber er zeigt doch sehr unmissverständlich, wie es ist, dort zu leben. Dieser Film ist ebenso ein politisches Statement wie auch ein erschöpfender Blick auf die Gesellschaft. Und während ich nicht glaube, dass die iranische Gesellschaft verdorben und krank ist, glaube ich doch, dass die Wiedergabe der Realität in Iran verdorben und krank ist, speziell was die Darstellung weiblicher Körper auf der Leinwand anbetrifft. Sie sind dehumanisiert bis zu einem Punkt, dass sie non-existente Gestalten sind, deren Gesichter von Stoff verhüllt werden. Fast jede Familie hat Zugang zu nicht reguliertem Fernsehen, in dem man Britney Spears beim Tanzen in einem Bikini zusehen kann, aber iranischen Frauen wird das Recht abgesprochen, eine Sexualität zu besitzen. Nachdem ich mehr als zehn Jahre über diese Geschichte gebrütet habe, muss ich außerdem sagen, dass es eine fundamentale Ungerechtigkeit ist, dass die Familien von Saeeds Opfern nur selten erwähnt werden. Eine tragische Ungerechtigkeit ist, was den Frauen widerfahren ist, die in Saeeds Hände fielen – sie wurden Zahlen, die Menschen kümmerten sich nicht weiter um ihre Schicksale und um ihre
Familien schon gleich gar nicht. Aber das waren echte Menschen. Indem man ihr Schicksal auf eine bestimmte Weise zeigt, können die Überlebenden ihrer Familien sie wieder als Menschen sehen und sich ihrer erinnern. 

Foto:
©arte

Info:
Stab

Regie ALI ABBASI
Drehbuch ALI ABBASI & AFSHIN KAMRAN BAHRAMI



Besetzung
Saeed       MEHDI BAJESTANI
Rahimi      ZAR AMIR EBRAHIMI
Sharifi       ARASH ASHTIANI
Fatima.     FOROUZAN JAMSHIDNEJAD

Abdruck aus dem Presseheft