TEPA Pressefoto 06Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. März 2023, Teil 4

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Der Filmtitel kündigt eine flüchtige Liebesgeschichte an, aber der Film scheint von einem kontinuierlichen Strom durchzogen zu sein, der oft überraschend ist und mit echter Spannung spielt...

Die Idee einer Art Tagebuch hat mich gereizt, weil es dadurch einen dramatischen Fortschritt durch Sprünge und Ellipsen gibt, sodass der Zuschauer bei jedem neuen Treffen der Liebenden auf eine Summe von kleinen Dingen achten muss, die sich nach und nach entwickeln. Der Zuschauer muss gewissermaßen die Zeit zwischen diesen Momenten durch seine Vorstellungskraft füllen. Mir gefiel die Idee, mit dem Konzept der Vergänglichkeit zu spielen, auch wenn eine Affäre natürlich per Definition vergänglich ist. Der Titel sollte von Anfang an die dramatische Herausforderung des Films andeuten. So weiß der Zuschauer, dass die glücklichen Momente, die den Figuren geschenkt werden, ein vorherbestimmtes Ende haben. Mir gefiel es, dass die Spannung bereits im Titel angelegt war. Was das von Ihnen angesprochene Gefühl des Stroms betrifft, so entsteht es durch den fast ununterbrochenen Fluss von Worten und Bewegungen der Figuren.


Dieser Film schafft es, den Alltag zu verdichten, ein Gefühl von Gegenwart zu vermitteln, das den Zuschauer voll und ganz involviert.

Was ich an diesem Projekt besonders spannend fand, war die Tatsache, dass wir uns nur für die Momente interessieren, in denen die beiden Liebenden zueinander finden. Zu Beginn des Films werden wir Zeuge ihres ersten Treffens, bei dem sie unter sich sind. Damit legen sie den Grundstein für ihre Vorgehensweise: sie wollen eine Beziehung, die nur auf Lust beruht. Eine Beziehung ohne Verpflichtungen, ohne Liebesgefühle, ohne Ausblick in die Zukunft. Beide zeigen sich bereit, im Augenblick zu leben, nicht über den gegenwärtigen Moment hinauszuschauen. Von diesem Augenblick an besteht der Reiz für den Zuschauer darin, herauszufinden, ob sie ihren Vertrag einhalten oder nicht. Zunächst stellt sich heraus, dass es
zwischen ihnen sehr gut läuft! Man sieht, wie viel Spaß sie haben, wenn sie sich treffen. Als Folge dieser glücklichen Momente entstehen dann Gefühle, die sie nicht zulassen und nicht ausdrücken können, da der Vertrag ihnen das verbietet. Wie lange wird diese einvernehmliche Beziehung der Leichtigkeit andauern? Wird sie halten? Kann man eine Beziehung führen, die nur dem Vergnügen gewidmet ist? Das waren die Fragen, die ich interessant fand und im Laufe dieser Treffen entwickeln wollte. Ich sah darin einen Spannungsfilm, in dem es um Figuren geht, die ihre Gefühle im Zaum halten müssen.

Der Begriff der Fantasie taucht früh in den Dialogen auf und wird später zu einem narrativen Dreh- und Angelpunkt...

Die Fantasie ist Ausdruck einer Wunschvorstellung. Einer Freiheit, einer Erfrischung, eines Verlangens nach Mehr. Etwas, das von einem geregelten Leben befreit und auch verbindet. Das sind wahrscheinlich die einzigen Projektionen, die sie sich gemeinsam erlauben. 


Sprache ist ein zentraler Punkt in Ihrem Kino und in diesem Film im Besonderen...

Mir gefällt die Idee, dass meine Figuren genau so gerne reden wie sie Sex haben. Sprechen bedeutet, von sich zu erzählen und sich zu suchen, sich im Blick des anderen zu entdecken. Wenn man sich liebt, hat man Lust, den anderen zu entdecken und sich selbst zu offenbaren. Allerdings schafft man es nie, sich völlig zu entblößen, man will gefallen, man will keine verletzenden Dinge sagen. Da sie sich einander nicht gestehen, dass sie sich lieben, kreisen sie um das, was sie auszudrücken versuchen. Sie sind ständig darauf bedacht, das Wesentliche nicht zu verraten.


In ihren Gesprächen zeigen Simon und Charlotte eine große Offenheit...

Mir ging es darum, eine besondere, ja außergewöhnliche Beziehung zu erzählen, in der sich meine Figuren frei fühlen, über alles zu sprechen. Charlotte und Simon schießen in gewisser Weise aus allen Rohren. Und in dieser Freiheit des Sprechens kommt es zu einer Freude, die sie selbst überrascht. Was ich schön fand war, dass sie alle möglichen Themen ansprechen und so eine sehr intime und tiefe Beziehung zueinander aufbauen.


Haben Sie das Drehbuch allein geschrieben?

Einen Teil des Drehbuchs verdanke ich Pierre Giraud. 2015 wurde mir angeboten, einen Workshop über das Schreiben zu leiten. Pierre gehörte zu den Teilnehmern. In diesem Rahmen schrieb er zwei Szenen zwischen einem fünfzigjährigen Mann und einer dreißigjährigen Frau. Als der Workshop zu Ende war, wollte er einen Kurzfilm daraus machen, während ich darin den Ausgangspunkt für das Drehbuch eines Spielfilms sah. Ich schlug ihm vor, das Projekt zu übernehmen. Pierre schrieb einen ersten Entwurf und ich passte die Geschichte auf meine Weise an, damit ich sie als Film umsetzen konnte. Wie ich es mit dem Text zu DER PREIS DER VERSUCHUNG (2018) von Denis Diderot gemacht hatte, adaptierte ich also frei das von
Pierre entworfene Drehbuch.


Warum haben Sie das Alter der Figuren geändert?

Mich interessieren in Filmen nicht Männer und Frauen im Allgemeinen, sondern Porträts einzelner und besonderer Menschen. Mir gefiel die Idee, dass Charlotte drei Kinder hat, eines davon noch klein, und dass sie versucht, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie möchte das Leben genießen, „auf Bäume klettern und die Früchte pflücken“, wie sie sagt. Ich mochte dieses Paar einfach.


TAGEBUCH EINER PARISER AFFÄRE ist einer Ihrer zärtlichsten und sinnlichsten Filme.

Berührungen sind durch den Beruf, den Simon ausübt, und die Aufnahmen von den Händen der Figuren sehr präsent. Ich unterscheide zwischen Zärtlichkeit und Sinnlichkeit. TAGEBUCH EINER PARISER AFFÄRE ist die Geschichte einer Beziehung, und es war mir wichtig, dass es keine Szenen gibt, in denen die Figuren schreien oder absichtlich gemein zueinander sind. Die Zärtlichkeit, die von Anfang an zwischen ihnen besteht, macht manche Situationen umso grausamer. Ich mag ihre Willenskraft und ihre Vorsicht, kein Drama entstehen zu lassen. Für mich ist Zurückhaltung im Kino viel intensiver, bewegender und grausamer als ein Ausdruck, der roh, direkt und ohne Rücksicht auf den anderen passiert. Ich bin eher von Charakteren berührt, die sich umeinander kümmern. Diese Zurückhaltung fördert für mich die Projektion und Empathie. Sie erscheint mir auch viel filmischer als alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Was die Sinnlichkeit angeht, so denke ich, dass sie dadurch entsteht, dass man sich gar nicht erst mit ihr beschäftigt. Ich mag keine bewusste Sinnlichkeit in der Malerei oder im Film. Ich mag es, wenn man sie erahnen kann, und ich hasse es, wenn sie die Erzählung überlagert. Je mehr Zurückhaltung, desto mehr Sinnlichkeit scheint meiner Meinung nach durch.


Der einzige Moment, in dem man im Film Schreie hört, ist im Kino, als Charlotte und Simon sich SZENEN EINER EHE (1973) von Ingmar Bergman ansehen...

Mein Film hätte auch „Szenen außerhalb einer Ehe“ heißen können. Ich habe Bergmans Film ausgewählt, um meine Bewunderung für diesen Filmemacher auszudrücken, aber auch um das Gegenteil von dem zu zeigen, was sich in meinem Film abspielt – ein Paar, das keine Hemmungen hat und nicht dazu in der Lage ist, sich schreckliche Dinge zu sagen.


Wie haben Sie das Leben der Figuren außerhalb des Gezeigten dargestellt?

Ich liebe „hors-champs“ (frz. hors de champ; das nicht sichtbare Feld der dargestellten Welt, Anm. d. Übers.),deshalb fand ich es sehr schön, durch diskrete Berührungen, Kostüme oder Dialoge anzudeuten, was im jeweiligen Leben der Figuren vor sich geht. Charlotte haben wir uns als Dokumentarfilmerin vorgestellt, wie die Sequenz andeutet, die in Jussieu gedreht wurde. Es ging darum, sich nicht lange mit diesen Informationen aufzuhalten, sondern nur ein paar Hinweise zu streuen, um die Vorstellungskraft des Zuschauers herauszufordern.

Foto:
©Verleih

Info:
Tagebuch einer Pariser Affäre (Frankreich 2022)
Originaltitel: Chronique d'une liaison passagère
Genre: Tragikomödie, Romanze, Komödie
Filmlänge: 100 Min.
Regie: Emmanuel Mouret
Drehbuch: Emmanuel Mouret, Pierre Giraud
Darsteller: Sandrine Kiberlain, Vincent Macaigne, Georgia Scalliet, Maxence Tual, Stéphane Mercoyrol u.a.
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
FSK: ab 0 Jahren
Kinostart: 23.03.2023


Abdruck aus dem Presseheft