LICHTER FILMFEST FRANKFURT INTERNATIONAL, 18. bis 23. April, Teil 11
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das ist ein Film, der uns noch lange beschäftigen wird, wenn er im August in den Kinos anläuft. Der Film beruht auf dem Buch von Anatol Regnier mit dem gleichen Titel, das wir bis dahin auch gelesen und besprochen haben und man muß ganz offen sagen, daß ohne die Wärme, Direktheit, ja einfach positive Bodenständigkeit des Autors, der uns hier durch das Leben und Werk der einzelnen Schriftsteller führt und eben durch ihre NS-Nähe oder nicht, denn es geht um die Schriftsteller, die 1933 oder später nicht aus Deutschland fliehen mußten, sondern die, die hier blieben und überlebten.
Die bekannten Schriftstellernamen kennt jeder, wie Erich Kästner oder Hans Fallada, die auch nach 1945 große Namen blieben. Ina Seidel war mit WUNDERKIND noch eine große Nummer in den 50ern. Und heute? Vergessen. Gottfried Benn ist dadurch bekannt, daß er den Aufstieg der Nazis glühend begrüßte und dann von ihnen schon 1934 verboten wurde. Hanns Jobst keinen kaum noch welche und mit Will Vesper, dem arschkriecherischen völkischen Dichter, schlägt der Film eine besondere Volte, denn genüßlich wird zitiert, wie sich die junge Gudrun Ensslin auf dessen niedersächsischen Landsitz auf Gut Triangel bei Gifhorn wohlfühlte, deren Lebensgefährte und Vater ihres Sohnes Vespers Sohn Bernward war, der sich in DIE REISE gründlich am faschistischen Vater abarbeitet und 1971 Selbstmord verübt. Ob Gudrun Ensslin noch den am 11. März 1962 verstorbenen Nazi-Oberdichter kennenlernte, ist unklar, aber ihre Begeisterung über die familiäre Aufnahme tut das Gästebuch kund.
Nein, der Film setzt nicht Faschismus mit linkem Terrorismus gleich, aber es ist schon eine Ironie des Schicksals, was anhand dieses Liebespaares gesellschaftlich zu verarbeiten ist.
Von vorne. Auf ganz unterschiedliche Weise werden die einzelnen, in Deutschland verbliebenen Schriftsteller auf ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus hin abgeklopft. Erst nach dem Film fallen einen Namen ein, die nicht vorkommen, die man seit der Kindheit aber kennt: Ricarda Huch, Reinhild Schneider, Ernst Wiechert, Frank Thieß, Hans Carossa, auch sie blieben und nach dem Film interessiert es einen brennend, wie ihre Existenz und ihr Selbstbild im Dritten Reich war, was sie mit ‚innere Emigration‘ beschreiben oder beschönigen. Und dann die Mitläufer, die sich unter dem Radar einrichteten oder schlimmer Mittäter wurden, wie Waldemar Bonsels, dessen BIENE MAJA wir noch heute kennen und der sich den Nazis geradezu widerlich andiente. Die Frage, wie sie überlebten und was sie dazu taten, gilt auch für Erik Reger, Marieluise Fleisser, Marie Luise Kaschnitz, Otfried Preußler, aber nicht für Georg Hermann, den jüdischen Schriftsteller, der im November 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Und auch nicht für Carl von Ossietzky, der 1938 an den Folgen der Gestapogewalt starb. Ach, wenn man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken, kommen einem so viele Autoren in den Sinn und überschattet Düsternis das Gemüt . Aber weil sie so schrecklich war, diese unsägliche Nazizeit, muß man sie eben gerade deshalb immer wieder zum Thema machen.
Dem Film gelingt es hervorragend, herauszustellen, daß jeder der genannten im Deutschen Reich verbliebenen Schriftsteller eine individuelle Note bezüglich Nationalsozialismus hatten. Da gibt es den strengen Protestanten, der aber die Juden haßt, da gibt es den Kleinbürger, der sich immer nach oben streckt und die Herrschaft nicht ankläfft. Da gibt es den Verharmloser, der von nichts weiß, da gibt es den Süddeutschen, der sich anders verhält als ein Nord- oder ein Ostdeutscher. Sie alle versuchen unter dem Radar zu bleiben, viele haben trotzdem mit der Gestapo zu tun oder werden überwacht. Ein Einzelschicksal auch Jochen Klepper, der ebenfalls im Fiolm vorkommt, den man in der Nachkriegszeit noch las und kannte, der sich mit seiner jüdischen Frau und dem Kind umbrachte.
Das alles kann ein Film überhaupt nicht bewältigen. Aber Dominik Graf zeigt in der Verfilmung des Buches von Charles Regnier, wieviel wir immer noch nicht wissen und daß es höchste Zeit ist, nicht nur an die Toten, die Ermordeten zu erinnern, sondern wieder einmal das schreckliche Wirken des Nationalsozialismus im Inneren aufzuarbeiten. Alltag der Schriftsteller. Demnächst mehr, wenn der Film anläuft.
P.S.
Obwohl der Film mit 2 Stunden und 27 Minuten sehr lang ist, hat kaum einer des gut besuchten Kinos seinen Platz verlassen, als direkt anschließend Regisseur Dominik Graf im Gespräch mit dem Filmkritiker, Filmer, Filmexperten Rüdiger Suchsland den Film reflektierte, zur Entstehen des Films, zu den Dreharbeiten und vor allem zu den genannten und auch den nicht genannten Autoren weitere Informationen beitrug. Zuerst war das Gespräch der beiden einfach interessant, als sich dann das Gespäch hin zum Publikum öffnete, war erstaunlich, wie viele und wie engagiert gefragt und kommentiert wurde. Dankbar registrierte man, daß die Diskussion trotz der Gesamtlänge von über 4 Stunden nicht frühzeitig abgebrochen wurde, sondern sich jeder einbringen konnte. Das ist ein Film, der einfach zum Weiterreden motiviert. Auf jeden Fall auch zum Weiterdenken, denn dieser Film ruft aus Kindheit und Jugend Verschüttetes hervor in einer von den Postfaschisten dominierten Bundesrepublik Deutschland.
Foto:
Anatol Regnier beim Forschen
©Verleih
Info:
Jeder schreibt für sich allein (2023)
Startdatum24.08.2023
Regie Dominik Graf
Genre Dokumentarfilmf
Drehbuch. Dominik Graf Constantin Lieb
Kamera Markus Schindler
Produktionsland. Deutschland Frankreich
Filmlänge167 Min
Filmverleih. Piffl Medien GmbH
gesehen am 22. April im DFF