whaleSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. April 2023, Teil 2

Redaktion

Frankfurt am Main  (Weltexpresso) – Als Samuel D. Hunters Theaterstück „The Whale“ im Jahr 2012 uraufgeführt wurde, gab es anfänglich Bedenken. Würden Theaterbesucher erscheinen, um ein Stück zu sehen, in der der Protagonist die gesamte Laufzeit auf dem Sofa sitzt? Und was ist mit diesem Titel? Wie sich herausstellte, waren die Sorgen unbegründet. Hunters Theaterstück wurde ein Hit. Das Publikum lobte es für seine weitreichende und umfassende Analyse des menschlichen Geistes, für die Authentizität und den Humor der Figuren und seine zutiefst bewegende Analyse von Trauer, Zwang und Erlösung.

Auch die Bedenken gegenüber dem Titel erübrigten sich, denn der titelgebende Wal Moby Dick spielt sowohl buchstäblich als auch metaphorisch eine wichtige Rolle in dem Stück. Charlie und Ahab sind sich im Grunde gar
nicht so unähnlich; beide Männer waren gefangen in ihrer Verfolgung eines Traums, berauscht von dem, was gewesen sein könnte, besessen von der Vorstellung einer anderen Zukunft.

Nach der erfolgreichen und vielbeachteten Premiere in Denver wurde „The Whale“ im Januar 2012 von Playwrights Horizons an den Off-Broadway verlegt, wo das Stück eine Reihe Auszeichnungen erhielt, darunter den Lucille Lortel-Preis für das Beste Stück, den GLAAD Media Preis und den Drama Desk Special-Award für einen Bedeutenden
Theaterbeitrag. „The Whale“ besiegelte auch Hunters wachsenden Ruf als wichtiger Dramaturg der Gegenwart, der sich mit den Feinheiten der modernen Identität und den großen Fragen des Geistes und der Existenz beschäftigt.

Aronofsky sah das Stück in einer frühen Aufführung New York. Er hatte sich bereits einen Namen als Ausnahmeregisseur gemacht, dessen Arbeit sich einer Kategorisierung entzieht. Seine Karriere begann mit dem halluzinatorischen Thriller PI – SYSTEM IM CHAOS, bevor er die aufwühlende Suchtfabel REQUIEM FOR A DREAM adaptierte. Es folgten der Sci-Fi-Kultklassiker THE FOUNTAIN, das Drama THE WRESTLER und der Psychothriller BLACK SWAN. Auch wenn sich Aronofskys Filme (inklusive der noch folgenden beiden, dem revisionistischen Bibelepos NOAH und der messerscharfen ökofeministischen Parabel MOTHER!) in Bezug auf Thema und Tonfall stark unterscheiden, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie erforschen die Subjektivität und brechen die Grenzen zwischen dem Selbst und der Story auf.

Aronofsky kaufte die Tickets für „The Whale“ aus einer Laune heraus, weil ihn der Titel faszinierte. Erst als die Theaterlichter ausgingen, im Nachglühen von Charlies Reise, wusste er, dass er die Rechte an diesem Stück erwerben musste. „Ich fühlte mich mit der Idee und Thematik verbunden, ebenso mit der Art und Weise, wie Schönheit in Dingen gefunden wurde, die durch unsere Vorurteile zu oft auf unmenschliche Weise herabgesetzt werden“, sagt Aronofsky. „Es
brachte mich zum Weinen wie auch zum Lachen. Ich fühlte mich inspiriert von der Tapferkeit und der Anmut, die jede der Figuren an den Tag legte. Das Stück griff eine Frage auf, der ich in meiner eigenen Arbeit oft nachgehe: Wie kann man das Publikum in Figuren hineinversetzen, in die es sich nicht vorstellen kann, sich hineinzuversetzen? Ich wusste damals nicht, ob es ein Film werden könnte, aber ich traf mich mit Sam und fühlte mich sofort mit ihm verbunden.“

Schon zu Beginn war klar, dass Hunter sein Werk selbst adaptieren würde. Jedoch hatte der Dramaturg noch nie ein Drehbuch für einen Film geschrieben. Ermutigt durch Aronofsky und durch die Bewilligung eines MacArthur Fellowships, studierte Hunter filmisches Erzählen und begann, sein Bühnenstück für die Leinwand zu übertragen. „Sam ist so
unglaublich begabt. Ich wusste, er würde seinen Weg finden“, sagt Aronofsky.

Hunter genoss die Herausforderung: „Es war eine Chance, die Geschichte noch einmal mit neuen Augen zu betrachten und als Person gemeinsam mit der Geschichte zu wachsen“. Es bedeutete aber auch, dass sich Hunter nochmals an eine sehr düstere Zeit seines eigenen Lebens erinnern musste. Denn den Anstoß zum Schreiben von „The Whale“ gaben zum Teil eigene Erfahrungen mit Adipositas während seiner College-Zeit. Obwohl er seitdem viel Gewicht verloren hatte,
wusste er aus erster Hand, mit welchen körperlichen und sozialen Herausforderungen Menschen wie Charlie zu kämpfen haben. Und obwohl es viele Ursachen für Adipositas – eine multifaktoriell bedingte Erkrankung, die mehr als 40% der Amerikaner betrifft – gibt, zog Hunter in seinem Fall eine direkte Verbindung zwischen seinem überschüssigen Gewicht und unausgesprochenen Gefühlen.

„Ich kenne viele Menschen, die übergewichtig, glücklich und gesund sind, aber ich war es nicht“, sagt Hunter. „Ich hatte eine Menge unterdrückter Emotionen, die aus meiner christlich-fundamentalistisch geprägten Jugend stammten, in der meine Sexualität auf hässliche Weise unterbunden wurde, und das schlug sich in einer ungesunden Beziehung zum Essen nieder. Als ich „The Whale“ schrieb, sprudelte das vermutlich alles aus mir heraus.“

Über die Figur Charlie fand Hunter eine Projektionsfläche, auf der er das eigene Trauma und die Wut, die er aufgrund seiner Erziehung hatte, verarbeiten konnte. Wenn die Zuschauer Charlie kennenlernen, befindet er sich buchstäblich in einer Art emotionaler Vorhölle: physisch, weil er sich aufgrund seines Körpergewichts nicht gut bewegen kann, und
emotional, weil er in große Trauer um seinen verstorbenen Partner Alan ist. Unfähig, sich seine eigene Rolle bei Alans Tod zu verzeihen, und zutiefst schuldbewusst, weil er seine junge Tochter und seine Frau im Stich ließ, gleitet Charlie ab in ein zutiefst selbstzerstörerisches Verhalten. „Unverarbeiteter Schmerz ist für Charlie der Grundstein für alles. Er leidet an kongestiver Herzinsuffizienz, aber vielleicht stirbt er tatsächlich an dem Kummer, den er nie verarbeitet hat“, sagt Hunter.

Kurz bevor er das Stück schrieb, begann Hunter an der Rutgers University zu unterrichten. Und zwar einen Kurs, vor dem jeder Studienanfänger Respekt hat: Der analytische Aufsatz. Seine Erfahrungen als Professor inspirierten ihn zu der Entscheidung, Charlie zu einem Online-Lehrer zu machen – ein Job, der es ihm ermöglicht, sich physisch vor der Welt zu verstecken und trotzdem sozial zu interagieren. Es war diese Berufswahl für Charlie, die Hunter schließlich dabei half, dessen Motive zu verdeutlichen und warum er so verzweifelt versucht, wieder Anschluss zu finden.

Als Highschool-Lehrer weiß Charlie genau, wie wichtig es ist, sowohl in Aufsätzen als auch im Leben eine klare Vision zu haben, seinen Standpunkt zu verteidigen, Redundantes wegzulassen und so klar wie nur möglich zum Kern einer Sache vorzudringen. Dieselben Strategien versucht Charlie auch in seinem eigenen Leben anzuwenden, wenn er versucht, sich mit den Menschen wieder zu verbinden – lose Fäden in Erwartung eines guten Endes zu verknüpfen – in den Tagen, die er für seine letzten auf Erden hält.

„Niemand mag das Schreiben von Essays, aber ich erinnere mich, dass ich an einem Punkt angelangt war, an dem ich meine Schüler anflehte, doch bitte einfach etwas Ehrliches zu schreiben. Sie sollten etwas verfassen, an das sie tatsächlich glauben. Daraufhin schrieb einer meiner Schüler eine Zeile, die heute sowohl im Stück als auch im Film
vorkommt: ‚Ich glaube, ich muss akzeptieren, dass mein Leben nicht sehr aufregend sein wird.‘ Ich werde den Moment nie vergessen, als ich das las, denn es war, als ob sich diese Seiten plötzlich erhellen würden und ich diese Person und ihre Menschlichkeit hervorscheinen sah“, erklärt Hunter. „Charlie sucht genau danach, bei sich selbst und bei anderen.“

Charlies Suche nach Wahrhaftigkeit bringt ihn wieder in Kontakt mit seiner entfremdeten Tochter Ellie. Sie versteckt die Wunden, die sie erlitt als sie von ihrem Vater verlassen wurde, unter einem dicken, düsteren Panzer aus Wut. Zunächst lehnt sie jeden Versuch Charlies ab, Zeit mit ihr zu verbringen, und lässt sich erst darauf ein, als er sich bereiterklärt,
ihr beim Schreiben ihrer Schulaufsätze zu helfen. 

Als Hunter begann, sich mit der Dynamik zwischen Charlie und Ellie zu beschäftigen, fühlte sich das für ihn seltsam, fast beängstigend an. Er hatte sich noch nie zuvor so verletzlich und entblößt gefühlt. „Es war ein eigenartiges Gefühlt, sich nicht hinter irgendetwas zu verstecken.“ Die Verletzlichkeit wurde Teil der Mechanik des Stücks, eine radikale Art von
Ehrlichkeit und Offenheit, die das Publikum überzeugte oder zumindest so sehr beruhigte, dass es bereit war, dem Stück in den Kaninchenbau zu folgen. Doch als Aronofsky die Idee einer Verfilmung aufbrachte, stand eine neue Frage im Vordergrund: Könnte Charlies Geschichte tatsächlich auf der Leinwand erzählt werden? An einem einzigen Ort?
Mit einem (physisch) quasi unbeweglichen Protagonisten? Anfänglich gab es die Überlegung, einen Teil der Handlung in die Außenwelt zu verlagern, mit neuen Figuren, aber sowohl Hunter als auch Aronofsky haben diese Idee schließlich verworfen. „Darren und ich fühlten uns von der Herausforderung angezogen, alles in diesem Raum stattfinden zu lassen, in dem die Figuren versuchen, sich gegenseitig zu retten. Aber es sollte sich nicht klaustrophobisch anfühlen.“, sagt Hunter. „Die Atmosphäre musste so einladend sein, dass die Zuschauer sich darin verlieren konnten.“

Die subtilen, aber bedeutsamen Veränderungen, die Hunter vornahm, überzeugten Aronofsky. „Sam hatte keine Angst davor, Neues hinzuzufügen“, sagt er. „Ein Beispiel dafür ist die neue Figur des Pizzaboten (Sathya Sridharan), der für einen der größten emotionalen Momente des Films sorgt. Als ich die Szene las, in der er Charlie sieht, war ich fest davon überzeugt, dass ich sie schon im Theaterstück gesehen hatte, aber sie war neu. Wenn dein Gehirn ein Bild in etwas verwandelt, von dem du denkst, du hättest es schon einmal gesehen, dann weißt du, dass es stark ist.“