die gewerk Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. April 2023, Teil 6

Jean-Paul Salomé

Paris (Weltexpresso) –  DIE GEWERKSCHAFTERIN beruht auf einer wahren Geschichte. Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?

Ich bin durch einen Tweet auf diese wahre Begebenheit gestoßen. Jemand erwähnte das Buch der Journalistin Caroline Michel-Aguirre, „La Syndicaliste“, das kurz vor der Veröffentlichung stand. Ich informierte mich darüber und hatte das Gefühl, dass es Stoff für einen Film bot. Ich hatte schon einmal einen Film über eine Whistleblowerin machen wollen, über Irène Frachon und den Mediator-Skandal , aber es war nicht dazu gekommen. Der Druck, dem Maureen Kearney, „die“ Gewerkschafterin bei Areva, ausgesetzt war, und der gewalttätige Angriff, dem sie zum Opfer gefallen war, waren sehr dramatisch. Man war sehr weit gegangen, um sie zu zwingen, ihre Nachforschungen einzustellen.

Der Weg dieser Frau, ihre Anklage, ihre Erlösung, ihre Momente des Zweifels oder der Depression, über die sie schließlich triumphiert, war bereits eine filmreife Erzählung. Vielleicht eher in der Tradition des amerikanischen oder italienischen politischen Kinos, das ich mag, als in der französischen Tradition. Es gab auch das Versprechen einer Rolle für Isabelle Huppert: Der Kinostart von EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN war gerade wegen der Corona-Pandemie verschoben worden, aber der Wunsch, wieder zusammenzuarbeiten, blieb. Ich fand im Internet Fotos von Maureen Kearney und sah sofort die Möglichkeit, dass Isabelle ihr auf der Leinwand ähnlich sehen könnte. Nachdem ich
das Buch gelesen hatte, erfuhr ich, dass der Produzent Bertrand Faivre die Rechte an dem Buch erworben hatte, ohne an einen bestimmten Filmemacher zu denken. Wir wurden uns einig, und die Drehbuchautorin Fadette Drouard und ich begannen, das Drehbuch zu schreiben.


Haben Sie Maureen Kearney kennengelernt?

Zunächst traf ich mich mit Caroline Michel-Aguirre. Ich erzählte ihr, was ich gerne in den Vordergrund stellen wollte. Ihr Buch ist ein spannender Bericht einer Journalistin, eine sehr gründliche Untersuchung der Funktionsweise der Affäre, in der sie Unglaubliches ans Licht bringt – sie war es, die die Ehefrau des Veolia-Managers aufspürte, die Opfer eines
ähnlichen Angriffs wie Maureen geworden war. Aber abgesehen von den Fakten, den politischen und industriellen Herausforderungen wollte ich wissen, was Maureen im Inneren erlebt hat, was ihre Angehörigen durchgemacht haben und wie sie sich wieder aufgebaut hat. Mir fehlte eine intime Dimension. Das erklärte ich Maureen Kearney, als ich sie zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter traf. Ich sagte ihr, dass dies meine Vision einer Figur sein würde und dass Fadette Drouard und ich uns Familienszenen ausdenken müssten, die auf dem basieren, was wir von der Beziehung zu ihrem Mann und ihrer Tochter wahrnahmen. Wir mussten es selbst erfinden.

Es gab Passagen im Buch, die faszinierend waren: Zum Beispiel fährt sie an einem Abend, der im Zentrum der Affäre steht, mit dem Auto in die Nacht hinaus, und wir wissen nicht, warum oder was sie tut. Ein Impuls zum Selbstmord? Der Deal war, dass Maureen das Drehbuch lesen sollte: Sie hat es bestätigt, aber auch darauf hingewiesen, dass sie an
manchen Stellen nicht ganz sie selbst war oder nicht unbedingt so reagiert hätte. Aber ein sehr großer Teil des Films ist wahrheitsgetreu: Einige Dialoge sind bis auf das Wort genau wiedergegeben, insbesondere das, was man während der beiden Gerichtsverhandlungen hört. Dieses Streben nach Wahrheit war ein Schwerpunkt der Arbeit des gesamten Teams. Wir drehten an Schauplätzen, an denen die Affäre tatsächlich stattgefunden hatte: Bercy, das Krankenhaus von Rambouillet, das Gericht von Versailles, in dem ehemalige ArevaMitarbeiter, die beim echten Prozess anwesend waren, in Gewerkschaftskleidung als Statisten auftraten.


Die Notlage von Maureen Kearney ist auch die Notlage einer Whistleblowerin, der nicht zugehört wird.


Absolut, das liegt aber auch an ihrer Persönlichkeit: eine Mischung aus Zerbrechlichkeit und Stärke, eine Draufgängerin, die Industriellen und Ministern die Stirn bot, aber auch eine Art Rausch verspürte, Teil einer Welt zu sein, aus der sie nicht stammte. Es ist auch eine Frage der sozialen Klasse: Sie kommt aus einem Arbeitermilieu, sie hat es durch ihre Intelligenz, ihre Arbeit und ihre Hartnäckigkeit geschafft, in die Position der Gewerkschafterin Nr. 1 bei Areva zu gelangen, und sie hat sich ein bisschen die Flügel verbrannt. Ich fand interessant, dass sie, nachdem sie ins Abseits gedrängt, aus dieser Welt ausgeschlossen und Opfer eines brutalen Angriffs geworden ist, zu Hause ganz allein sitzt und beschuldigt wird. Wie geht sie mit diesem Umbruch um?


War die von ihr ausgesprochene Warnung gerechtfertigt?

In zweierlei Hinsicht: Die Zerschlagung von Areva, die von Henri Proglio, dem Vorstandsvorsitzenden von EDF, der sich als Nummer 1 der französischen Atomindustrie sah, angestrebt wurde, führte zum Verlust von Know-how, das an die Chinesen verscherbelt wurde – der Verlust der französischen Unabhängigkeit im Energiebereich, dessen Folgen heute sichtbar sind. Vor allem aber waren Zehntausende von Arbeitsplätzen bedroht – die nur wenige Monate später abgebaut worden sind. Maureen Kearneys Kampf hatte nichts mit der Kernenergie an sich zu tun, die damals schon wegen der Katastrophe von Fukushima einen schlechten Ruf hatte. Ihr Kampf war politisch und gesellschaftlich motiviert. Doch sie lief gegen eine Wand, niemand schien zu sehen, wo das Problem lag: Die Minister sagten ihr immer wieder, dass sie die Situation im Griff hatten, ohne jemals etwas zu unternehmen, die
Industriellen erklärten sie für verrückt und betonten, dass sie keine Ingenieurin sei, da sie für Areva als Englischlehrerin im Rahmen der Weiterbildung arbeitete.


Wie hat Isabelle Huppert diese Figur übernommen?

Wir haben uns bei EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN sehr gut verstanden. Es gibt eine Art Fluidität in unseren Beziehungen, eine Leichtigkeit, sich die Dinge einfach zu sagen. Isabelle geht sehr pragmatisch an die Schauspielerei heran. Sie arbeitet viel, glaubt aber auch an die Spontaneität, an das, was sich im Moment der Aufnahme ergibt. Das ist wahrscheinlich von Regisseur zu Regisseur unterschiedlich, aber ich bin auch pragmatisch, ich mache keine Proben, und sie verlangt auch keine von mir. Wir tauschen uns mehrmals über das Drehbuch aus und korrigieren es eventuell. Wir skizzieren die Silhouette der Figur, die sich mehr über ihr Aussehen als über ihrePsychologie definiert. Dieser Ansatz passte gut zu Maureen Kearneys Figur mit ihrer eigenwilligen Garderobe: oft bunte Kleidung, auffällige Accessoires wie Brillen, von denen sie eine beeindruckende Sammlung besaß, spektakuläre Ohrringe etc. Sie hatte eindeutig nicht die gleichen Mittel wie die mächtigen Männer und Frauen, mit denen sie in Kontakt kam. Sie war eine Person, die sich durch ihr Aussehen eine Rüstung erschuf, und das gefiel Isabelle sehr gut. Eine Rüstung, die von Zeit zu Zeit, je nach den Umständen, abfiel.


Wenn sie sich nach dem Überfall neu schminkt, ist das eine Art, die Rüstung wieder anzulegen?

Absolut, sie versucht, sich zu schützen. Das ist eine überraschende Geste für den Zuschauer und den Arzt, der im Raum ist. Ich glaube nicht, dass es unter diesen Umständen ein Standardverhalten gibt, aber die Blicke, die nach dem Angriff auf sie gerichtet sind – und das sind vor allem männliche Blicke – sind zweifelnd. Isabelle legte großen Wert auf diese
Details, die im Drehbuch standen und die wir unbedingt hervorheben wollten.


Hat sie zwei Maureens gespielt, eine Maureen als Soldatin und eine Maureen als Verletzte?

Es gab Aufnahmen mit strengem Dutt, mit unordentlichem Dutt oder gar keinem Dutt: die Uniform der Kämpferin, die unvollständige oder zusammengesetzte Uniform und die verletzliche Frau ...


Der erste Teil des Films, Maureens „Kreuzzug“, bietet Szenen der Konfrontation und wunderbare schauspielerische Leistungen.

Als ich diese Orte der Macht filmte, fühlte ich mich ihr ziemlich nahe: Ich gehöre nicht zu diesem Milieu und das stärkte meine Außenseiterposition – die vielleicht auch meine Position gegenüber dem französischen Kino ist! Diese Szenen kamen nicht aus dem Nichts: Sie waren in Caroline Michel-Aguirres Buch gut dokumentiert und die Schauspieler gingen auf ihre eigene Weise mit ihnen um. Marina Foïs konsultierte Filmdokumente, in denen Anne Lauvergeon auftaucht, um ihre Autorität wiederzufinden, und die Intimität, die sie mit Maureen
herstellt, eine umstandsbedingte, etwas herablassende Verbundenheit. Yvan Attal hat Luc Oursel verkörpert, diese Nummer 2, die nicht das Zeug zur Nummer 1 hat und die ebenfalls von dieser Geschichte zermalmt wird. Man hat ihm eine runde Brille aufgesetzt, die im Kontrast dazu steht, dass er schlecht mit seinen Emotionen umzugehen weiß: Unter der äußeren Rundung verbirgt sich eine große Anfälligkeit und Gewaltbereitschaft. Oursel hat tatsächlich mitten im Verwaltungsaussschuss einen Stuhl geworfen! 

Darüber hinaus stellte François-Xavier Demaison einen Charakter dar, der von Maureens rechter Hand inspiriert war, sie bei allen Treffen mit Politikern begleitete, sie unterstützte und letztlich nach ihrem Ausscheiden bei Areva ersetzte. Über das reale Vorbild hinaus verkörpert er einen traditionelleren, weniger disruptiven Syndikalismus. Aus diesem Grund wollte ich einen Schauspieler aus dem populäreren Kinobereich, fast als Gegenspieler, der der Besetzung eine zusätzliche Farbe verleiht. 


Lässt Marina Foïs' beißende Ironie darauf schließen, dass Maureen Kearney von Anne Lauvergeon manipuliert wurde? 


Ich hatte große Erwartungen an die Szenen zwischen Marina und Isabelle, und ich wurde nicht enttäuscht. Ihre Komplizenschaft nährte die Duelle der Schauspielerinnen, die echte Kinomomente waren. Im wahren Leben war Maureen eine Bewunderin von Lauvergeon. Und sie ist auch ein Mensch, der in der Freundschaft extrem loyal ist. Sie hatte nicht diese besondere Art, die Politiker oder Industrielle haben können, die ihnen selektive Freundschaften ermöglicht oder es ihnen erlaubt, 

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

REGIE.   Jean-Paul Salomé
DREHBUCH    Jean-Paul Salomé & Fadette Drouard
nach dem Roman „La Syndicaliste“ von Caroline Michel-Aguirre

Darsteller
Maureen Kearney.   Isabelle Huppert
Gilles Hugo             Grégory Gadebois
Luc Oursel               Yvan Attal

Frankreich, Deutschland 2022
122 Minuten Laufzeit
FSK: ab 16 Jahren
Kinostart: 27. April 2023

Abdruck aus dem Presseheft