Redaktion
Berlin (Weltexpresso) – Wenn man einen Blick auf die Jahrzehnte umfassende Karriere der legendären Performancekünstlerin Marina Abramović wirft, dann ist ihr ikonischster oder zumindest meistgesehener Moment wohl eine einzelne Begegnung während ihrer Aufführung von „The Artist Is Present“ während einer Retrospektive im Jahr 2010. In einem viralen Clip dieses Moments öffnet Abramović – deren Performance daraus besteht, regungslos zu sitzen und mit jedem Teilnehmer eine Minute lang Blickkontakt aufzunehmen – ihre Augen und ist überrascht, dass ihr ehemaliger Ehemann, der Künstler Ulay, den sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen oder mit ihm gesprochen hatte, ihr gegenübersitzt. Er schüttelt seinen Kopf, als ihr die Tränen kommen. Sie sagen nichts. Sie strecken über einen Tisch die Hände zueinander aus.
Moment in PAST LIVES – IN EINEM ANDEREN LEBEN, als Nora und Hae Sung sich erstmals seit vielen Jahren gegenüberstehen. „Es ist, als würde man eine Reflektion von sich aus einer anderen Zeit sehen“, sagt Greta Lee. „Ich kehre immer wieder zurück zu dieser Vorstellung von, ja, Liebe, aber auch Identität in ihrer einfachsten Form: Dieser Mensch verkörpert so viel von dem, was ich einmal war, und: existiert diese Person, die ich einmal war, immer noch?“ Die Begegnung mit Hae Sung ist gleichermaßen eine Vision von Noras Vergangenheit und ein Blick darauf, welche Wege man nicht beschritten hat: „Es ist ein Hologramm einer völlig anderen Existenz, was hätte gewesen sein können. Wenn ich mich nicht entschlossen hätte, mit jemand völlig anderem zusammen zu sein, sondern wenn ich dorthin gezogen wäre, wenn ich durch diese Tür gegangen wäre.“
Dieser Moment und alles, was zu ihm führt, ist etwas, was Celine Song selbst nur zu gut kennt. Die Verbindung, die Nora entwickelt, zuerst als Kind, dann mit Online-Nachrichten und Skype-Sessions in ihren
Zwanzigern und schließlich in Person später in ihrem Leben, ist rein strukturell eine identische Kopie dessen, was Song in ihrem eigenen Leben passiert war. „Das war für mich in der Inszenierung eine der einfachsten Szenen, weil es so spezifisch war, dieses Gefühl“, erklärt die Filmemacherin. „Weil es sich wirklich so anfühlt, als sei diese Person wieder lebendig. Es fühlt sich so an, als sähe man einen Geist.“
Für sie ist die Erfahrung – die in gewisser Weise absolut universal und für jedermann nachvollziehbar ist, der selbst schon einmal in eine andere Stadt umgezogen ist oder eine neue Phase im Leben begonnen hat – besonders desorientierend und wehmütig, erfüllt von der Sehnsucht einer Immigrantin, die ihr Land, ihre Kultur und Sprache in jungen Jahren verlassen hat. „Man sieht diesen Menschen nicht nur, wie er ist, sondern man sieht ihn so, wie man sich an ihn erinnert, wie er in der Kindheit war“, sagt Celine Song. „Und man sieht ihn umgeben von diesem Gefühl, der Architektur, den Gerüchen, dem Licht der Kindheit.“
Dieses Gefühl wird oft besonders stark heraufbeschworen durch Songs unauffällige, aber doch berührende inszenatorische Handschrift, besonders in Einstellungen, die so aufgebaut sind, dass sie vorangegangenen aus Noras vergangenem Leben spiegeln. Song erinnert sich an die Komposition einer Einstellung mit dem kleinen Hae Sung, der aus dem Fenster eines Autos blickt, während Nora an seiner Schulter schläft – ein Schnappschuss, den der Film in seinem allerletzten Moment wieder aufgreift. „Ich machte Screenshots und zeigte sie meiner koreanischen Crew und sagte ihnen: So stelle ich mir das vor. So vorsätzlich bin ich vorgegangen“, erinnert sich Celine Song.
Ihre simplen Kompositionen tragen oft das Gewicht der gesamten Geschichte, abgebildet in einer einzigen Szene. Sie verweist auf eine weitere gespiegelte Szene ziemlich gegen Ende des Films, deren
Bedeutsamkeit mit einem überraschenden Schnitt offenbart wird. Nora und Hae Sung stehen einander gegenüber, genau wie sie es vor Jahren schon einmal getan haben, an einer Weggabelung in einem
Seitengang in Seoul. „Es gibt einfach diese Einstellungen, von denen man weiß, dass sie alles ausdrücken“, meint sie.
„romantisch“ gewesen sei, gibt es doch eine Wahrheit, die im Film deutlicher ausgesprochen wird und der sie im wahren Leben nur zögerlich in die Augen geblickt hatte. „Ich wollte es nicht wahrhaben, er wollte es nicht wahrhaben“, sagt Celine Song. „Mein Ehemann hatte es bereits einen Monat vorher angesprochen. Er meinte ganz trocken: ,Wovon sprichst du? Er kommt, um dich zu sehen, weil er in dich verliebt ist.‘“ Obwohl es naheliegend gewesen wäre, möchte Song nicht die gängigen Konventionen und dramatischen Verstrickungen eines Liebesdreiecks aufgreifen. „Die ganz flache Interpretation des Films wäre: Für welchen Typen wird sie sich entscheiden?“, erklärt sie. „Aber in diesem Film geht es um echte Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut. In der langweiligen Version ginge es um einen Krieg zwischen diesen Figuren. Dabei ist es doch viel komplexer, warum diese beiden Männer Nora lieben. Beide Männer müssen Nora respektieren, damit sie sie gut lieben können.“
Nora ist mit anderen Worten ihr eigener Herr und nicht eine Idee, die sich anhand ihrer Entscheidung, welchen Mann sie wählt, manifestiert. „Sie ist sich ganz sicher, was sie will“, sagt Greta Lee. „Wir kennen
alle diese Liebesgeschichten, romantische Dramen mit Frauen im Zentrum, die sich in ihren Begierden verlieren und ihre Lösungen für das Leben kanalisieren, indem sie sie auf verschiedene Männer projizieren. Das ist nicht unser Film.“
Und doch: Während Noras Welten zwischen diesen beiden Männern kollidieren, kehren wir im letzten Drittel des Films unweigerlich zurück zu der Szene in der Bar, mit der der Film seinen Ausgang genommen
hatte, nun aber mit einem erweiterten Kontext und vielleicht einer neuen, ungemütlichen Spannung: Nora sitzt buchstäblich zwischen Hae Sung, einem Geist aus ihrer Vergangenheit, der sein ganzes Leben damit gerungen hat, sie endlich loszulassen, und ihrem Ehemann Arthur, der sich an den Rand gedrängt fühlt und miterlebt, wie die beiden wieder Kontakt zueinander aufnehmen, in einer Sprache, die er nicht verstehen kann.
Bei der Ausarbeitung der Figur von Hae Sung war es Celine Song ein erklärtes Anliegen, ihn so gewöhnlich zu machen wie nur möglich. „Und doch ist da eine Sache, die ihn unbedingt besonders sein lässt, nämlich sein Vermögen, sie zu lieben, ohne irgendetwas von ihr zu wollen oder zu brauchen“, sagt Song. „Das ist das Einfachste, was er ihr anbieten kann.“ In gewisser Weise trifft das auch auf Arthur zu. „Er hat panische Angst, aber er weiß, dass er ruhig sitzenblieben und verdammt noch einmal den Mund halten wird, weil ein Teil von ihm genau weiß, dass genau das, nämlich nichts zu sagen, unbedingt notwendig ist, wenn er ihr seine Liebe zeigen will. Tatsächlich muss er dieses Gefühl voll und ganz akzeptieren: Da wird immer ein Teil von ihr sein, den er niemals kennenlernen wird.“
„Es gibt keine Bösewichte, keine Gegenspieler“, sagt John Magaro, ebenfalls eine New Yorker Theatergröße „Aber natürlich haben wir Menschen voller Stolz ebenso wie Menschen voller Eifersucht und
Neid und Zorn, und jeder muss auf seine Weise mit diesen Emotionen fertigwerden. Celine zeigt uns zwei wirklich gute Männer – beide sind freundlich, nett, gütig, großzügig -, denen es gelingt, ihre kindischen
Eifersüchteleien und Unsicherheiten hinter sich zu lassen, weil ihnen diese Frau so sehr am Herzen liegt.“
Oft ist es in Filmen oder anderen Formen des Erzählens so, sagt Song, dass sich das Drama dadurch definiert, dass Erwachsene sich wie Kinder verhalten. PAST LIVES – IN EINEM ANDEREN LEBEN dagegen
ist ein Film „über drei Menschen, die sich jede erdenkliche Mühe geben, sich wie Erwachsene zu verhalten“, rklärt die Regisseurin. „Keiner von ihnen streitet, keiner schreit herum. Nur dank der Kraft ihrer Liebe und aus gegenseitigem Respekt gelingt es ihnen, sich durch diese Wiedervereinigung zu manövrieren und sie strengen sich an, einander nicht wehzutun.“
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Regie Celine Song
Buch Celine Song
Kamera Shabier Kirchner
Darsteller
Greta Lee (Nora)
Teo Yoo (Hae Sung)
John Magaro (Arthur)
Abruck aus dem Presseheft