Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. September 2023, Teil 8
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - „Die Mittagsfrau“ ist ein weiblicher Naturgeist in der slawischen Sagenwelt, sie gab dem Film ihren Namen. Man muss ihr alles erzählen muss, wenn man sie trifft: Wer man ist und woher man kommt, sonst findet man keinen Frieden. Doch im äußerst ruhig erzählten und oft abschweifenden Film, braucht man lange um zu verstehen, wer die verschiedenen Personen eigentlich sind und was sie umtreibt.
Die halbwüchsigen Mädchen Helene (Mala Emde) und Martha (Liliane Amuat) leben im spießigen Bautzen bei ihrer jüdischen, aber psychisch schwerkranken Mutter. Unvermittelt beginnt die oft zu toben, Geschirr zu zerschmeißen und die jungen Frauen zu schurigeln. Am Ende der 1920er-Jahre machen sich die beiden auf ins wilde Berlin und wohnen bei ihrer exzentrischen Tante. Während die lesbische Martha sich endlich ausleben kann, versucht Helene das Abitur nachzuholen, um Medizin zu studieren. Dennoch verliebt sie sich heftig in Karl, der mit ihr die Leidenschaft für Literatur und Bildende Kunst teilt:
„Es ist ein Weinen in der Welt / als ob der liebe Gott gestorben wäre / und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“, heißt es bei Else Lasker-Schüler, der Lieblingsdichterin der Liebenden. Und tatsächlich fallen bleierne Schatten: Karl kommt beim Reichstag um, als die Nazis die Macht ergreifen, für die beiden halbjüdischen Geschwister wird es in Deutschland lebensgefährlich. Martha und ihre Tante wollen Deutschland verlassen, während die verzweifelte Helene vor Trauer um Karl wie gelähmt ist.
Wilhelm, ein strammer Nazi, verliebt sich in sie, nur widerwillig gibt sie seinem Drängen nach. Er begleitet sie in eine Irrenanstalt, in die ihre Mutter eingesperrt wurde. Die Nazis versuchen hier einen Zusammenhang zwischen Jüdisch-sein und Geisteskrankheit zu erfinden. Dadurch erfährt Wilhelm von der jüdischen Herkunft seiner Angebeteten. Er ist zwar entsetzt, besorgt ihr dennoch falsche „arische“ Papiere und fordert als Gegenleistung die Heirat. In der Hochzeitsnacht ist er wütend, dass er keine blutende Jungfrau bekommt. Trotz großer Vorsicht wird Helene später schwanger, doch der Nazi will „von dem Balg“ nichts wissen, verlässt sie und verweigert den Unterhalt.
Mühsam schuftet Helene im beginnenden Krieg im Krankenhaus, um ihren Sohn Peter und sich durchzubringen. Doch nach Kriegsende setzt sie ihren Siebenjährigen aus, nimmt ihren alten Namen und ihre echte Identität wieder an...
Die politischen Ereignisse der Zeit werden ausschließlich durch das Erleben der Hauptfigur Helene deutlich, es gibt keine aufdringliche Sicht oder Dokus von außen. Die äußerst umfangreiche Erzählung des 2007 erschienenen Erfolgsromans „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck (über eine Million Auflage, Übersetzung in 40 Sprachen), wird im Film radikal reduziert. Einige Themen, wichtige Figuren und lange Passagen werden entfernt oder gekürzt. Im Zentrum stehen Verlust und Wiedergewinnung der Identität Helenes zu einem hohen Preis. Seinerzeit wurde in den kritischen Diskussionen des Buches diese Frage nur am Rand diskutiert.
Die Buchautorin Franck selbst fand, dass sich das Werk gut zum Verfilmen anbot, weil ihre Sprache stark visuell ist: „Dieses plastische Erzählen (...) bedeutet, dass ich an der Textoberfläche keine psychologisierenden Erklärungen suche. Ich lasse den Leser die Dinge mit seinem inneren Auge sehen.“ Das gelingt auch der Regisseurin Barbara Albert, die - trotz starker Reduktion - ebenfalls die Stimmung und den Geist der Vorlage in diesem sehenswerten Film hervorragend einfängt.
Fotos:
©Wild Bunch Germany
Info;
„Die Mittagsfrau“ D 2023, 137 Minuten, Filmstart 28. 9. 2023
Regie Barbara Albert mit Mala Emde, Liliane Amuat , Max von der Groeben, Thomas Prenn u.a.