Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 9. November 2023, Teil 5
Gregor J.M.Weber
Amsterdam (Weltexpresso) - In erster Instanz ist Johannes Vermeer ein Maler. Mit dieser einfachen Tatsache ist gemeint, dass er Bilder aufgrund seiner künstlerischen Prinzipien gestaltet, dass er darin seine
besonderen Fähigkeiten und Interessen einfließen lässt. So sehen wir in seinen Bildern eine Welt nach seiner Vorstellung. Es ist der Maler Vermeer, der uns seine selbst gestaltete Bild welt vorstellt. Was nicht weg nimmt, dass Vermeer bei jedem Gemälde eine verblüffende Illusion von Wirklichkeit erreicht.
Dies liegt nicht an einer äußersten Verfeinerung bis zum kleinsten Detail, wie es etwa die Leidener Feinmaler rund um Gerard Dou anstrebten. Vermeer interessiert diese Art von haarfeiner Wiedergabe nicht. Ebenso sind ihm dynamische, bewegte Effekte im Bild fremd, seien es äußerlich sichtbare Bewegungen wie laufende oder gestikulierende Menschen, oder sei es eine auffallende Mimik als Zeichen einer inneren Emotion. Zu seiner Zeit sollten diese Mittel auch für eine gesteigerte „Lebendigkeit“ im Bild sorgen, aber auch hiersucht Vermeer andere Wege.
Seine illusionistische Bildwelt entsteht aus einem Zusammenspiel mehrerer genau abgestimmter Komponenten: die stillebenartige Ruhigstellung seiner Figuren, die exakte Beherrschung der Perspektive, die genaue Beobachtung von optischen Effekten wie die Schärfen und Unschärfen im Bild.
Das Licht mit seinen farbigen Reflexen weiß er verblüffend wiederzugeben. Zur Beherrschung all dieser Komponenten kommt noch ein hohes Gespür für die Komposition des Bildes, das Arrangieren und Verteilen der Motive mit ihrem Linienspiel und ihren Helligkeitswerten auf der Bildfläche. Vermeer gilt unbestritten als der Maler des Lichtes. Dessen Wirkungen hat er wie kein anderer Maler seiner Zeit sehr genau wahrgenommen. Dies betrifft einmal die vom Licht erzeugten Farben (hell und dunkel, kalt und warm), wie auch die vom Licht getroffenen Oberflächen und Formen der Gegenstände (Reflexlichter, Schärfen-Unschärfen).
Diese Qualitäten des Lichtes wahrzunehmen erfordert einige Übung, sie aber in Malerei umzusetzen, noch wesentlich mehr Können und Begabung. Bei Vermeer fallen bestimmte Charakteristika besonders auf: Abhängig von der Position im dargestellten Raum erscheinen Konturen der Gegenstände scharfkantig oder weich, werden Oberflächen aus körnigen, später mehr punktuellen oder mosaikartigen Flecken
zusammengestellt.
Man gewinnt den Eindruck, als ob Vermeer das Wissen um das Darzustellende (eine Augenbraue ist ein Strich) ignoriert und nur exakt das malt, was er tatsächlich sieht – Abstufungen von Farbtönen abhängig von einem optischen Fokus im Bild. Auch von ganz nahe sieht der Betrachter auf Vermeers Gemälden nicht die Pinselarbeit, sondern lediglich die Lichtwerte. Der Maler und Kunsthistoriker Lawrence Gowing hat die Malerei Vermeers treffend beschrieben, indem er von ihm sagt, er sei „nur Auge und nichts anderes“, und überspitzt, „eine wandernde Netzhaut, gedrillt wie eine Maschine“.
Mit der Beherrschung all dieser künstlerischen Mittel gelingt es Vermeer, seine eigene Welt im Bild zu erschaffen. Auch andere damalige Maler alltäglicher Szenen (sogenannte „Genremaler“) sind an ihren Bilderwelten erkennbar, Jan Steen mit seinen vollgestopften, anekdotenreichen Genreszenen, witzig und karikaturartig. Oder Gerard ter Borch II mit technisch ausgefeilten Gesellschaftsszenen, in denen
die Figuren miteinander in Aktion treten, sich anschauen, necken und lachen, ähnlich wie auf zahlreichen Bildern seines Kreises. Meist geschieht das in bühnenartigen Räumen in vorderster Bildebene. Vermeer hat sich sicher von dem einen oder anderen Motiv seiner Malerkollegen anregen lassen. So lassen sich seine Gemälde durchaus in eine Reihe neben thematisch ähnlichen Werken der Zeitgenossen
stellen. Im selben Moment wird aber der Unterschied umso deutlicher: Vermeers Personen agieren nicht laut, sondern ruhig, sie sind kaum miteinander beschäftigt, sondern eher für sich. Die Zeit scheint still zu stehen, ohne dass die Szenen eingefroren erscheinen. Eine nach innen gekehrte, kontemplative Stimmung beherrscht häufig die Szene. Dieser Eindruck hängt weniger von den Motiven ab (Briefe lesen,
Musizieren usw.), sondern von der Art und Weise, wie Vermeer seine Bildwelten gestaltet – und dazu zählen die oben skizzierten künstlerischen Mittel, die nur ihm zu eigen sind.
Wesentlich gehört dazu die Kunst, wie Vermeer die dargestellten Räume für den Betrachter vor dem Bild öffnet oder schließt, oder anders gesagt, wie er den Betrachter am Geschehen teilhaben lässt oder ihn ausgrenzt. Der introvertierte Charakter mancher Szenen hängt im hohen Maß ab von der formalen Gestaltung des Bildraums, wie der Übergang von außen, vor dem Bild, in das Innere gestaltet wird. Stühle
und Tische versperren bisweilen diesen Weg, lassen die Figuren dahinter abgeschieden erscheinen. Vermeer probiert auch das Gegenteil aus, wie er mit dem Blick aus dem Bild die Grenze von innen nach außen überspielen kann. Eine Ahnung der Außenwelt tritt in die beschützende Welt der Interieurs ein, wenn Vermeer den Blick aus den Fenstern lenkt oder mit Briefen die ferne Welt thematisiert. Es kann sogar
die ganze Welt in den begrenzten Bereich seiner Innenräume eindringen, wenn er mit dem Astronom und dem Geographen Himmel und Erde bemüht. Auf einer Reihe von Gemälden zeigt er nachdenkliche, nach innen gekehrte Figuren, die auf tiefere, seelische Reflexionen schließen lassen.
Vermeer hat dieses Spiel von innen und außen besonders beschäftigt. Verfolgt man seine Lösungen durch das Gesamtwerk hindurch, wird deutlich, dass er bestimmte Ideen öfter aufgreift, weiter ausbaut oder variiert. Auf diese Weise lassen sich seine Vorlieben und Interessen verfolgen, als ob man ihm über die Schulter schauen könnte. Die Gemälde Vermeers werden daher im Folgenden nach verschiedenen
Konzepten behandelt, die Vermeers persönliche Interessen und Ambitionen widerspiegeln. Natürlich weisen diese Aspekte Überlappungen auf, aber so aufgeteilt lassen sich bestimmte Eigenschaften von Vermeers Kunst leichter aufzeigen. Sein erhaltenes Werk ist mit etwa 37 Gemälden relativ klein und wird auch nicht viel größer gewesen sein – darum ist es umso erstaunlicher, dass es seit Jahrhunderten immer und immer wieder neue Generationen über die Maßen fasziniert. Ein letztes Wort über Vermeer kann und wird es nicht geben.
Foto:
©Verleih
Info:
Stab
Buch und Regie. Suzanne Raes
Produktion Ilja Roomans
Kamera Victor Horstink
Protagonisten
Gregor Weber. ehemaliger Leiter der Abteilung Bildende und dekorative Kunst am Rijksmuseum
Peter Roelofs, Leiter der Abteilung Gemälde und Skulpturen am Rijksmuseum
Abbie Vanivere, Restauratorin und Forscherin für Gemälde am Museum Mauritshuis
Anna Krekeler, Gemäldekonservatorin und Forscherin am Rijksmuseum
Jonathan Janson, Maler und Kurator von „Essential Vermeer“
Abdruck aus dem Presseheft