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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 9. November 2023, Teil 9

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Schon auf der Berlinale, wo TÓTEM im Wettbewerb lief, war ich von der Beiläufigkeit, mit der die Regisseurin die wesntlichsten Dinge von Leben und Tod auf die Leinwand bringt, begeistert. Ich glaube nur, daß man Mexiko und die mexikanische Mentalität kennen muß, um diesen Film, um die Bedeutung dieses Films wirklich zu begreifen, der nicht nur glaubwürdig auf der Leinwand zeigt, was gemeint ist, wenn seit der Antike der Spruch Wahrheit wird, daß wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, sondern auch zeigt, wie bei allen Empfindlichkeiten einzelner Familienmitglieder doch DIE FAMILIE eine Schutzburg sein kann, was dann um so wichtiger wird, wenn ein junger Vater sterben muß. 


Das gibt es nur in mexikanischen Filmen, daß der Tod bei einem Geburtstag gefeiert wird. Tona (Mateo García Elizondo) ist Maler, Vater einer kleinen, äußerst wachsamen und nachdenklichen Tochter und er ist so krebskrank, daß er sterben wird. Im Elternhaus - die Mutter ist ebenfalls an Krebs gestorben, die Schwester überlebt gerade, - wird er hingebungsvoll gepflegt, während seine Frau Nuri (Monserrat Marañon) zur Arbeit fährt, wird Tochter Sol (Naíma Sentíes) im Elternhaus abgegeben.

Wir sehen das Geschehen aus ihren Augen.  Sie ist die Hauptperson und wenn sie wohin blickt, folgt die Kamera diesem Blick. Überhaupt ist die Kamera auf ihrer Sichthöhe, wenn sie aufmerksam durch die Wohnung streift. Und sie schaut genau hin, ein aufnahmefähiger, empathischer kleiner Mensch. Was sie sieht, ist das Durcheinander, das vor großen Festen in Haushalten halt so herrscht. Das ist wunderbar gezeichnet, vom Teppichsaugen, was die Jungen - ihre cousins - nur widerwillig tun, über das Kuchenbacken, das Tischdecken und alles, was an Küchenarbeiten noch zu tun ist. Klar, da gibt es mal schmallippig auch einen Dämpfer für jemanden, aber insgesamt geht diese Familie sehr liebevoll miteinander um, die Schwestern, die hier schalten und walten und alles für den kranken Bruder tun, zu dem Sol lange nicht darf, denn er soll sich ausruhen für den Abend, wenn die Gäste kommen.

Und dann gibt es noch den Familienvater der Schwestern und des Bruders, die Mutter ist schon gestorben, aber der Vater übt seinen Beruf als Therapeut aus, auch wenn er dazu einen Apparat an seinen Hals setzen muß, der eine Weltraumstimme erschallen läßt. Er hat für seinen Sohn viele Jahre ein Bonsaibäumchen herangezogen und beschnitten.

Während wir tagsüber schon im Haus die vielen Zimmer mit einer Einrichtung bewundern, wie sie in kulturinteressierten Schichten in Mexiko einfach gelebt wurden, mit dem Mix aus Moderne und überkommenen Indio-Stücken, wirklich etwas ganz Besonderes, findet der Abend dann im Garten statt, in dem unglaublich viele Leute Platz finden und alle auf Tona orientiert sind, der nun seine Geschenke entgegennimmt.


Aber den Auftakt bildet eine Idee, die man gleich übernehmen möchte. Die sehr zahlreichen Gäste halten sich alle eine Maske vor’s Gesicht: das Antlitz von Tona, woraufhin er lacht und stöhnt: zu viele Tonas! Emotionaler Höhepunkt wird gewissermaßen der Auftritt seiner Tochter und seiner Frau. Diese hat die Tochter auf den Schultern, darum herum einen roten Überwurf, der die Mutter verdeckt, so daß das Gesicht der Tochter, zusätzlich mit einer riesengroßen bunten Perücke bestückt, dort oben erstrahlt und laut eine der schmerzlich hinreißenden Verdi-Arien ertönt, zu der die Tochter im Takt und Sinn unglaublich genau die Mimik beisteuert. Des Vaters Erschütterung ob dieses Auftritts teilt sich dem Zuschauer mit.


Es wissen alle, er wird sterben, aber heute wird er noch einmal gefeiert . Das entspricht so sehr dem traditionellen Umgang der Mexikaner mit dem Tod, den sie ja als Gerippe auftreten lassen, als Musikband oder einzeln, was als Hintergrund Indiobräuche hat, hier wird konkret auf die Lacandonen verwiesen, was leider nicht ausgeführt wird und uns normalerweise wenig sagt. Sie sind die einzige, noch bestehende Mayakultur, die seit den 70er Jahren erforscht werden, angesiedelt in der Provinz Chiapas.


Dieser Film ist eben auch ein kulturhistorischen Dokument, wie eine Bildungsschicht in Mexiko lebte und die Zukunft mit der Vergangenheit verbinden konnte. Das Spiel des kleinen Mädchens ist umwerfend. Aber ein weiterer Aspekt wurde noch gar nicht erwähnt. Sol liebt Tiere, aber die Kamera auch! Wie sie Schnecken im Garten sammelt und auf das Glas von Gemälden setzt, wie sie die kleinsten Insekten auf Grünes setzt, das alles feiert auch die Natur, zu der die Regisseurin Lila Avilés, die auch ihr Drehbuch schrieb, sagt, der Mensch ist auch nur ein Tier, ein Lebewesen eben.


Foto:
©Verleih

Info:
Stab
Regie Lila Avilés
Buch Lila Avilés
Kamera Diego Tenorio

Darsteller
Naíma Sentíes (Sol)
Monserrat Marañon (Nuri)
Marisol Gasé (Alejandra)
Saori Gurza (Esther)
Teresita Sánchez (Cruz)
Mateo García Elizondo (Tonatiuh)
Juan Francisco Maldonado (Napo)
Iazua Larios (Lucía)
Alberto Amador (Roberto)