Festiaval de cannesSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. November 2023, Teil 5

 Paul Laverty

Nordengland (Weltexpresso) - Dieser Film war der schwierigste, den wir je zusammen gemacht haben. Zumindest scheint es mir so. Vor über vier Jahren diskutierten Ken, Rebecca und ich über die Idee, einen dritten Film im Nordosten Englands zu drehen. Es mag zwar nicht so aussehen, wenn ein Film am Ende dann wirklich fertig ist, aber am Anfang und auf dem Weg dahin ist es ein sehr unberechenbares Unterfangen. Es ist definitiv ein Glücksspiel. Wie immer haben wir dabei unterwegs bemerkenswerte und äußerst großzügige Menschen getroffen, die uns Mut und Inspiration gegeben haben. Die ehemaligen Bergbaudörfer im Nordosten sind einzigartig und schon auf einer meiner ersten Reisen hatte ich das Glück, John Barron, einen Pfarrer, vor seiner schönen alten Kirche zu treffen, die am oberen Ende seines Dorfes liegt und über die sanften Hügel blickt.

Später an diesem Tag sollte es eine Beerdigung geben. Eine junge Mutter hatte erst ihr Kind zur Grundschule gebracht und hatte sich anschließend erhängt, als sie wieder zu Hause war. Dieses Bild und die Vorstellung ihrer letzten Tage verfolgten mich eine lange Zeit, genauso ging es Ken, nachdem ich ihm die Geschichte erzählt hatte.

Eine Tragödie, aber alles andere als ein Einzelfall. Bald darauf traf ich nämlich eine ältere Frau, die die Namen anderer junger Frauen nannte, die sich ebenfalls das Leben genommen hatten.
Vor allem meine Gespräche bei meinen Rundgängen durch viele dieser Dörfer mit den älteren Gemeindemitgliedern, die selbst Bergleute oder Angehörige von Bergleuten waren, hinterließen immer wieder einen bleibenden Eindruck. Eine außergewöhnliche ältere Dame in ihren Neunzigern war früher Krankenschwester und pflegte damals die Verwundeten der Bergbaukatastrophe von Easington im Jahr 1951, bei der 83 Bergleute starben - einer davon war der Vater ihrer Nachbarin, die bis heute neben ihr wohnt. Menschen wie sie und andere, die 1984 am Bergarbeiterstreik beteiligt waren, zeugen bis heute von einem starken Gemeinschaftssinn, Zusammenhalt und politischer Haltung, die in einem auffälligen Gegensatz stehen zur Hoffnungslosigkeit Vieler in der Gegenwart.
Es wurde klar, dass „Vergangenheit" eine wichtige Rolle in unserem Film spielen sollte.

Bei meinen Gesprächen mit jungen und alten Menschen, bei meinen Spaziergängen durch diese Dörfer mit ihren verfallenen Hauptstraßen und Häusern habe ich immer wieder über diesen Geist der älteren Generation im Vergleich zur tragischen Geschichte der jungen Mutter nachdenken müssen, die sich das Leben genommen hatte. Wie konnte die energische gemeinschaftliche Solidarität in der Zeit während des Bergarbeiterstreiks so sehr in Isolation und Verzweiflung umschlagen?

Als Ken und ich uns trafen, kamen mir schnell weitere Fragen in den Sinn. Wie konnte eine einst organisierte Arbeiterklasse mit einer kämpferischen Gewerkschaft in dieser Welt von Ricky enden, der Hauptfigur unseres Films SORRY WE MISSED YOU? Wieso erliegt dieser Ricky dem Narrativ der freien Marktwirtschaft und sieht sich als Herr seines eigenen Schicksals, obwohl er an eine App gekettet ist, die jeden Moment seiner Arbeit überwacht? Wieso steht Daniel Blake in unserem anderen Film über den Nordosten auf einmal allein da und wird von der systematischen Brutalität der staatlichen Bürokratie schikaniert? Die Leben von Ricky und Daniel Blake sind keine Zufälle, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Die wichtigste Frage war hier aber, wie wir in der Gegenwart und in unserem Film genau diese Vergangenheit sichtbar machen können.
Bei unseren Fahrten durch die kleinen Gemeinden fiel uns immer wieder der Verfall der Infrastruktur auf: Geschäfte, die mit Brettern vernagelt waren, geschlossene Schwimmbäder, Gemeindehäuser und Bibliotheken, aber noch offensichtlicher war die Anzahl der Pubs, die leer standen oder abgerissen wurden. Das alles spiegelte die allgemeinen wirtschaftlichen Veränderungen seit dem Bergarbeiterstreik 1984 wider.

Wie wäre es, wenn wir einer alten Kneipe, der letzten im Dorf, die sich gerade noch so über Wasser hält, eine Hauptrolle in unserem Film geben? Sie ist der letzte verbliebene öffentliche Ort, an dem die Vergangenheit noch lebendig ist, auch wenn er von der harschen Realität der Gegenwart bedroht wird. Uns schien, dass dieser Pub, dass THE OLD OAK genau diese weit in die Vergangenheit reichenden Wurzeln hat, die uns helfen könnten, viele der Konflikte und Widersprüche der Gegenwart zu lösen.

Irgendwann fiel mir ein Notizbuch mit dem Eintrag „Tommy Joe Ballantyne hat den Glauben verloren“ in die Hände. Wer dieser Tommy war und warum er seinen Glauben verloren hatte, war nicht klar, aber ich war erleichtert, seine Bekanntschaft zu machen. So bekam TJ seinen Platz in THE OLD OAK. Er bringt den verlorenen Glauben mit und wirft die noch wichtigere Frage auf, ob er seine Hoffnung wiederfinden kann.

In einem der Dörfer, die wir besuchten, sah ich einen älteren syrischen Mann durch die Straßen laufen. Er trug traditionelle Kleidung und es wirkte fast surreal, wie er in den Straßen an jungen Leuten in Trainingsanzügen vorbeiging. Er schien nichts um sich herum wirklich wahrzunehmen, und die Vorstellung, wie sehr diese arme Seele durch den Krieg in Syrien traumatisiert worden war, lag auf der Hand.
Sowohl im Nordosten Englands als auch in Schottland begegneten wir wunderbaren syrischen Familien, die uns offen und ehrlich ihre Geschichten erzählten und uns zu unserer Geschichte inspirierten.
In den ehemaligen Bergbaudörfern gibt es extrem günstige Wohnungen und Häuser, die oft Vermietern gehören, die diese Häuser billig ersteigern konnten. So endeten sehr viele syrische Familien, auch aus den anderen Teilen Großbritanniens, im Nordosten und leben nun in dieser allein gelassenen Region Englands.

Von Aktivisten in den Gemeinden erfuhren wir auch, dass Behörden aus anderen Teilen des Landes heimliche Deals mit einigen Vermietern in den Dörfern gemacht hatten, um ihre eigenen Mieter und Schutzbefohlenen in den Nordosten zu verlegen. Eine erste Ahnung von dieser brutalen Politik bekamen wir schon bei den Dreharbeiten zu ICH, DANIEL BLAKE. Es gibt leider immer mehr lokale Ämter, die ihre Probleme buchstäblich woanders abladen, anstatt sich auf eigene Lösungen zu konzentrieren. Selbst einige Gefängnisse informierten beispielsweise bald zu entlassende Häftlinge über billige Wohnungen in den ehemaligen Bergarbeiter-Dörfern.

So wundert es nicht wirklich, dass sich viele der dort lebenden Menschen benachteiligt und ungerecht behandelt fühlen. Hier findet sich immer wieder ein fruchtbarer Boden, den Rechtsextreme nutzen, um ihr Gift zu säen. Dies als Teil unserer Geschichte zu erzählen wäre einfach und vielleicht sogar melodramatischer gewesen, aber wir wollten mit Charlie einen Charakter erschaffen, der komplexer und dadurch im besten Fall auch aufschlussreicher sein würde. Wie kommt es, dass ein anständiger Mann wie Charlie, der sich durchaus als Teil der Gemeinschaft sieht, von den Umständen aufgerieben wird und bestimmte Entscheidungen trifft? Damit waren wir in der Lage, uns der großen Frage zu stellen, wie sich Hoffnungslosigkeit, Ungerechtigkeit und mangelnde Handlungsfähigkeit auf unser Leben und den Umgang mit anderen auswirken und wie es somit zu Angst und Hass führen kann.

Wie reagiert eine traumatisierte Gemeinschaft, wenn sie sich Seite an Seite mit einer anderen wiederfindet, das hat uns interessiert. Wovor wir die Augen verschließen und was wir sehen wollen, war ein weiterer Aspekt, der uns fasziniert hat, uns schließlich zu Yara in unserer Geschichte führte und sie gleichzeitig erweiterte. Um etwas zu verstehen, muss man neugierig sein und wirklich hinschauen. Einigen, die den syrischen Neuankömmlingen offen und neugierig gegenübertreten, sind wir immer wieder begegnet und das zeigte uns, dass es Hoffnung gibt. Die Frage ist nur, woher kommt diese Hoffnung und wie lässt sich dieser entscheidende Antrieb für Veränderungen erzeugen?

Seit unseren ersten Gesprächen über diese Geschichte im Jahr 2019 haben wir immer wieder mit dem Thema Hoffnung gerungen. Tatsächlich sind wir davon eigentlich schon seit unserer allerersten Zusammenarbeit in den frühen 90er Jahren besessen, was mich zum 17. Juni 2022 bringt, als wir eine Szene in der atemberaubenden Kathedrale von Durham drehten - ein Tag, der mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung bleiben wird und der zufälligerweise auch Kens 86. Geburtstag war.

Normalerweise lesen sich Produktionsnotizen sicherlich anders, aber da dies der letzte Film ist, den wir mit Ken gemacht haben, ist hier vielleicht auch der richtige Platz für ein paar besondere Worte und für meine Hochachtung vor ihm.

Wir haben an vielen Orten dieser Welt gemeinsam Filme gedreht, wir waren auf Festivals, haben an Podiumsdiskussionen teilgenommen und zahllose Gespräche und Begegnungen miteinander erlebt. Ich habe gesehen, wie Ken unter größtem Druck gearbeitet hat, als er bei unserem ersten Film in Nicaragua krank wurde, und ich war fast 30 Jahre später dabei, als er am letzten Drehtag von THE OLD OAK alles daransetzte, eine große Szene zwischen heftigen Gewitterschauern doch noch irgendwie zu drehen, während uns die Zeit davonlief. Von kleinen Kindern bis hin zu den angesehensten politischen Persönlichkeiten ist er jedem Menschen mit Freundlichkeit und sanftem Humor gegenübergetreten. Er hat eine klare, sehr feste politische Überzeugung und bietet politischen Gegnern immer die Stirn, aber ich habe nie erlebt, dass er irgendjemandem, egal welcher Überzeugung oder welcher kulturellen oder religiösen Herkunft, mit etwas anderem als tiefstem Respekt begegnete, nicht mal, wenn er völlig erschöpft war. Das liegt in seiner DNA und macht ihn zu einem großen Vorbild.

Eine letzte Sache: Filme zu drehen, selbst mit dem besten Team, ist ein einsames Unterfangen. Es ist sogar noch schlimmer als für einen Autor vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen, denn da sind nicht alle Augen auf dich gerichtet wie am Set, wenn man auf dem Regiestuhl sitzt. Das Team wartet auf dich und du musst ständig Entscheidungen treffen. Nach der Corona-Pandemie wäre es für Ken ein Leichtes gewesen THE OLD OAK doch nicht zu machen, einen Film, der immer schon eine gewaltige Herausforderung war. Es waren schon in der Vorbereitungszeit viele Monate Arbeit und Reisen nötig. Das Casting allein nahm mehr als 6 Monate in Anspruch, bevor es an die eigentlichen Vorbereitungen für die Dreharbeiten ging. An manchen Tagen, wenn er mal wieder gegen 23 Uhr ins Hotel zurückkehrte, befürchtete ich, dass das zu viel für ihn wäre, dass er diesen straffen Zeitplan, der jeden jüngeren Mann in seinen 30ern extrem fordern würde, nicht durchhalten könnte. Ich bin fest davon überzeugt, dass ihm seine politischen Überzeugungen dabei geholfen haben, dieses enorme Pensum zu bewältigen, und vielleicht bringt es ihn ja zum Schmunzeln, wenn ich hier den heiligen Augustinus zitiere: „Die Hoffnung hat zwei schöne Töchter: Sie heißen Wut und Mut.“ Erstens, die Wut darüber, wie die Dinge sind. Zweitens, den Mut, sie verändern zu wollen. Das war sein Arbeitsleben. So viel Mut auf so schmalen Schultern.


PAUL LAVERTY (Drehbuch)

Paul Laverty kam 1957 als Sohn einer Irin und eines Schotten in Kalkutta zur Welt. Vor seiner Karriere als Drehbuchautor studierte er zunächst Philosophie in Rom und anschließend Jura in Glasgow. Paul Laverty blieb dort zunächst als Anwalt und war danach für eine Menschenrechtsorganisation in Lateinamerika tätig.

Seit mehr als 30 Jahren ist er als Drehbuchautor an Ken Loachs Seite. Ihr erster gemeinsamer Film war CARLA’S SONG. 1998 wurde Paul Laverty bei den British Independent Awards mit dem Preis für das Beste Drehbuch zu MEIN NAME IST JOE geehrt, 2002 bekam er die Auszeichnung für das Beste Drehbuch in Cannes für SWEET SIXTEEN. 2004 wurde sein Drehbuch für JUST A KISS für den Europäischen Filmpreis nominiert. Den britischen Filmpreis BAFTA erhielt er 2012 für sein Drehbuch zu ANGELS’ SHARE – EIN SCHLUCK FÜR DIE ENGEL. Für seine Lebensgefährtin, die spanische Regisseurin Icíar Bollaín, schrieb Paul Laverty bislang zwei Drehbücher, zu UND DANN DER REGEN sowie zu EL OLIVO – DER OLIVENBAUM. Bei Bollaíns KATMANDU fungierte er 2011 als Koautor. THE OLD OAK ist die 16. gemeinsame Arbeit mit Ken Loach.

Foto:
©Festival de Cannes


Info:
THE OLD OAKLaufzeit: 114 Minuten Kinostart: 23. November 2023Im Verleih von Wild Bunch Germany

BESETZUNG
TJ Ballantyne.    Dave Turner 
Yara.                   Ebla Mari
Laura                  Claire Rodgerson 
Charlie                Trevor Fox
Vic.                     Chris McGlade        

 

STAB
Regie.   Ken Loach
Drehbuch. Paul Laverty


Abdruck aus dem Presseheft