Redaktion
Nordengland (Weltexpresso) - Wie ist THE OLD OAK entstanden?
Wir hatten schon zwei Filme im Nordosten Englands gedreht. Beides Geschichten über Menschen, die in dieser zerrissenen Gesellschaft gefangen sind. Beide endeten unweigerlich schlecht. In dieser Zeit haben wir dort aber so viele warmherzige und unbeugsame Menschen getroffen, die sich diesem Leben mutig und entschlossen stellen, dass wir auch das unbedingt zeigen wollten. Wir hatten das Gefühl, einen dritten Film machen zu müssen, der genau das widerspiegelt, ohne dabei die Probleme in dieser vernachlässigten Region zu verharmlosen. Es gab hier eine noch größere Geschichte für uns, wenn wir in der Lage wären, sie zu finden.
Unser Ausgangspunkt war der Verfall dieser Region. Die alten Industrien, Schiffbau, Stahl- und Kohlebergbau sind verschwunden und es ist nichts Neues an ihre Stelle getreten. Zahllose Gemeinden, die auf stolze Zeiten der Solidarität und lange kulturelle und sportliche Traditionen zurückblicken, wurden von Politikern beider großen Parteien dem Verfall überlassen. Was uns dort auffiel, war, dass die Menschen von den Tories sowieso nichts erwartet hatten, aber dass das Versagen der Labour-Partei angeprangert wurde, gerade weil der Nordosten natürlich eine Labour-Hochburg war, wo z. B. Tony Blair oder Peter Mandelson Abgeordnete waren. Das hatte nur nie einen Unterschied gemacht. Die kleinen Gemeinden wurden im Stich gelassen. Viele Familien sind weggezogen, Geschäfte haben geschlossen, ebenso wie Schulen, Bibliotheken, Kirchen und die meisten öffentlichen Einrichtungen. Wo es keine Arbeit gibt, schwindet die Hoffnung. Entfremdung, Frustration und Verzweiflung treten an ihre Stelle und erschreckenderweise machen sich dadurch auch rechtsextreme Kräfte und Tendenzen breit.
Stadtverwaltungen in anderen, wohlhabenderen Gegenden schickten schutzbedürftige Menschen, die als „Problemfälle“ gesehen werden und auf Wohngeld angewiesen sind, in den Nordosten, wo die Mieten billig sind. Konflikte waren geradezu unvermeidlich.
Verschärft wurde die Situation noch durch eine weitere Wendung, als die Regierung sich endlich dazu entschloss, Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Insgesamt waren es zwar weniger als in den meisten anderen europäischen Ländern, aber sie mussten ja trotzdem irgendwohin. Auch hier war es keine Überraschung, dass der Nordosten mehr Flüchtlinge aufnahm als jede andere Gegend. Warum? Hier gibt es billigen Wohnraum und es handelt sich um eine Region, die von den nationalen Medien kaum beachtet wird.
Paul hatte Geschichten darüber gehört, was passierte, als die ersten syrischen Familien ankamen, und bekam das Gefühl, dass wir diese Geschichte erzählen sollten. Dafür mussten wir sie aber zunächst wirklich verstehen. Es geht um zwei Gemeinschaften, die Seite an Seite leben. Beide leiden unter ernsten Problemen, aber eine hat auch noch mit dem fürchterlichen Trauma zu kämpfen, einem Krieg von unvorstellbarer Grausamkeit entkommen zu sein - trauernd um die, die sie verloren haben, und krank vor Sorge um die, die sie zurückließen. Diese Menschen finden sich als Fremde in einem fremden Land wieder, in dem sie auch nicht immer willkommen sind. Kann es da überhaupt ein Zusammenleben geben und wie findet man in solchen dunklen Zeiten so etwas wie Hoffnung? Klar war, dass es um schwierige Fragen geht, aber Paul, Rebecca und ich wollten nach Antworten suchen.
Wie ist aus diesen ersten Gedanken die Story von THE OLD OAK entstanden?
Paul und ich sprachen viel über die großen Zusammenhänge, aber dann schlug Paul vor, dass wir uns auf einen Mikrokosmos konzentrieren könnten, auf einen Pub, der „The Old Oak" heißen sollte. Der Wirt, TJ, würde den schwierigen Weg dieser Region verkörpern. In der Vergangenheit war er ein aktiver Teil der Gemeinschaft, hat jetzt aber mit großen Problemen zu kämpfen. In Geschichten geht es fast immer um Beziehungen und hier brachte Paul eine Syrerin ins Spiel, die im Flüchtlingslager Englisch gelernt hatte und sich zur Fotografin ausbilden ließ. Ihre persönlichen Erfahrungen sorgen dafür, dass sie einen weitläufigeren Blick auf die Welt um sich herum hat. Ihre Freundschaft mit TJ steht im Zentrum der Geschichte.
Wie sind Sie an die Charaktere herangegangen, die im Dorf den Neuankömmlingen aus Syrien ablehnend gegenüberstehen?
Wir haben zugehört. Wir wussten ja ungefähr, was wir zu erwarten haben, nachdem wir uns jahrelang mit sozialen Konflikten und Auseinandersetzungen beschäftigt hatten. Die genaue Art und Weise, wie sich die Ereignisse entfalten und wie die Menschen reagieren, ist aber immer etwas unterschiedlich und auch sehr aufschlussreich. Es steckt ja in jedem Standpunkt eine Wahrheit. Das Problem ist nur, was die Menschen aus ihren eigenen Wahrheiten machen. Wenn jemand lange auf einen Arzttermin wartet, wer ist dann ihrer Ansicht nach daran schuld? Wenn die Schulklassen zu überfüllt sind, wer ist dann daran schuld?
Das Problem ist, es gibt keine Bösewichte wie in vielen Filmen. Klar ist, dass ein Gefühl der Enttäuschung Menschen zu extremen Meinungen und Verhaltensweisen treiben kann. Dahinter steht aber immer eine gewisse Logik, die man nicht übersehen sollte, denn das würde das Drama einer Geschichte zwar vereinfachen, aber auch abschwächen.
Das Dorf, von dem wir erzählen, ist Teil einer größeren Gemeinschaft. Es blickt auf eine lange Geschichte des Widerstandes gegen Ausbeutung zurück. Früher musste man sich mit den Minenbesitzern herumschlagen und dann folgte in jüngerer Zeit die erzwungene Schließung der Gruben in der Ära Margaret Thatchers. Diese Auseinandersetzungen, dieser Arbeits- und Überlebenskampf, sorgten für ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und auch die Wertschätzung internationaler Unterstützung. Die Schwächung der Gewerkschaften ließ die Einzelnen in ihrem Kampf allein zurück. Wenn es keine starke Gemeinschaft mehr gibt, wenn das Unternehmertum angebetet wird und nicht das Miteinander, dann verändert sich das Bewusstsein und alte Wertvorstellungen verlieren ihre Kraft. All das hat einen Einfluss darauf, ob man die neu ankommenden syrischen Familien willkommen heißt oder nicht. Wir haben viele Gespräche geführt, wir haben zugehört, wir haben beobachtet und Paul hat das Drehbuch geschrieben.
Genauso sind Sie auch an die Darstellung der syrischen Familien herangegangen?
Ja, das Prinzip ist immer das Gleiche. Zuhören, beobachten und den Menschen den nötigen Raum erlauben, sich treu zu bleiben. Das Casting war auch hier wie schon so oft vorher Teil des Prozesses. Die Syrer im Film sollten Syrer sein, die sich auch wirklich in dieser Region niedergelassen haben, und Pauls Drehbuch ließ ihnen die Freiheit, ihre eigenen Erfahrungen und Geschichten einzubringen.
Details sind wichtig und wir alle haben dabei sehr viel gelernt. Menschen sind unterschiedlich, auch wenn man sie vielleicht einer großen Gruppe zuordnen kann. Einige Familien waren traditionell, andere weniger. Einige hatten Englisch gelernt, anderen fiel es schwer, aber alle haben uns ihre Zeit geschenkt und sich mit ganzem Herzen engagiert. Ganz abgesehen von den legendären Kuchen, die sie für uns mit ans Set brachten.
Unser Glück war auch, dass wir zwei Menschen im Team hatten, die uns bei der Arbeit mit den syrischen Familien unterstützt haben. Yasmeen Ghrawi war während des Castings und von Zeit zu Zeit während der Dreharbeiten von unschätzbarem Wert. Sham Ziad war direktes Bindeglied zu den Familien und hatte immer ein offenes Ohr für alle Fragen, die Tag für Tag aufkamen.
Manche Details mussten wir im Laufe der Arbeit anpassen. Einigen syrischen Müttern war es wichtig, dass ihr Kopf immer bedeckt bleibt oder sie fühlten sich beispielsweise nicht wohl, dabei gesehen oder gefilmt zu werden, wie sie in ein Pub gehen. Es gab aber immer eine Lösung und für uns war essenziell, dass sich alle respektiert und wohl fühlen. Wir haben in jedem Fall auch viel gelacht und neue Freundschaften geschlossen.
Auf die Verortung im Nordosten Englands haben Sie auch bei der restlichen Besetzung geachtet?
Nach dem Drehbuch ist die Besetzung das wichtigste Element jedes Films. Mit ihr erzählt man eine weitere Geschichte. Wir haben nach Menschen gesucht, die auch aus der Region kommen. All das, was man im Film an unterschiedlichen Reaktionen auf die Anwesenheit der Syrer sieht, wird von Menschen dargestellt, die in denselben Straßen leben, die Ähnliches erlebt haben und wissen, dass es vor den schlechten Zeiten auch gute Zeiten gegeben hat. Dadurch wird deutlich, dass aus ähnlichen Erfahrungen ein sehr unterschiedlicher Umgang mit den heutigen Konflikten entstehen kann, auch wie sie alle der gleichen Quelle entspringen.
Wir wollten Menschen, die zur Region und zum Dorf im Film gehören, ohne dass irgendjemand einen Akzent nachahmen muss. Wenn sie in eine echte Kneipe dort gehen würden, sollte sie jeder für Einheimische halten. Das war die Vorgehensweise bei unserem Casting und auch wenn das auf den ersten Blick wie eine Einschränkung klingt, war es das Gegenteil. Ob etablierte Schauspieler, Newcomer oder einfach Menschen, die mit ihrer Lebenserfahrung sofort einen Eindruck hinterlassen, wir fanden unglaublich viele talentierte Menschen.
Kahleen Crawford ist seit langen Jahren und vielen Filmen unsere Casting-Direktorin. Gemeinsam mit Carla und Eliza stellte sie sicher, dass wir jeden treffen konnten, der in Frage kommen würde. Auch wenn ich es nach so vielen Filmen, in denen wir es ähnlich gemacht haben, eigentlich wissen sollte, war ich auch diesmal wieder überrascht, wie viele Menschen die Fähigkeit haben, fiktive Situationen real erscheinen zu lassen. Jede Person, die wir trafen, hatte etwas zu bieten, und wir bedauerten fast, nicht eine noch größere Besetzung zu haben, auch wenn sie ohnehin schon groß war.
Abgesehen von TJ, Yara und Charlie gab es viele weitere wichtige Rollen zu besetzen. Zwei der schwierigsten waren Vic und Gary, die bei der Ankunft der Syrer eine harte Haltung einnehmen. Chris McGlade und Jordan Louis verstanden, was hinter dieser Feindseligkeit steckt, und stellen das ohne Entschuldigung oder Übertreibung der Szenen dar. Für die Geschichte ist es wichtig, dass man Vic und Gary versteht und dass sie glaubwürdig sind. Es ist eine echte Leistung, dass das Chris und Jordan so uneingeschränkt gelang.
Zwei weitere Schlüsselrollen sind Laura, die als eine der Wenigen im Dorf die Neuankömmlinge von Anfang an willkommen heißt, sowie Fatima, die Mutter von Yara und drei jüngeren Kindern. Clare Rodgerson als Laura brachte mit ihrer Wärme und ihrem Optimismus wichtige Bestandteile für die Geschichte. Wenn man ihr begegnet, erkennt man sofort ihre Energie und ihr Verständnis für die realen Spannungen in der Region, wie wir sie ganz ähnlich im Film zeigen.
Amna, die Fatima spielt, wollte wie viele syrische Mütter ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, dass sie ein neues Zuhause finden durfte und in einer fremden Welt freundlich aufgenommen wurde. Ihre Geschichten von Krieg, Grausamkeit, Folter und Verlust waren erschütternd und zeigten gleichzeitig, wie stark die Menschen sein können und wie sie sich trotz unmenschlicher Erfahrungen ihre Menschlichkeit bewahren. Amna brachte eine wichtige Glaubwürdigkeit mit und ließ die Fiktion der Geschichte real erscheinen.
Außerdem konnte ich mich immer an Amna wenden, wenn ich Fragen hatte, wie eine Szene funktionieren sollte. Amnas Hilfe war da von unschätzbarem Wert.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto:
Ken Loach beim Dreh von THE OLD OAK
© Sixteen Films Limited, Why Not Productions
Info:
THE OLD OAKLaufzeit: 114 Minuten Kinostart: 23. November 2023Im Verleih von Wild Bunch Germany
BESETZUNG
TJ Ballantyne. Dave Turner
Yara. Ebla Mari
Laura Claire Rodgerson
Charlie Trevor Fox
Vic. Chris McGlade
STAB
Regie. Ken Loach
Drehbuch. Paul Laverty
Abdruck aus dem Presseheft