Redaktion
Nordengland (Weltexpresso) - Kommen wir zu den drei Hauptfiguren im Film. Wer ist TJ?
TJ ist ein Mann in den späten Fünfzigern, geboren und aufgewachsen in diesem Dorf, in dem er jetzt seinen Pub betreibt. Seine Arbeit in der Grube begann er kurz vor dem Streik 1984 und diese Erfahrung machte ihn zum Kämpfer. Er wurde in seiner Gemeinde zu einer wichtigen Persönlichkeit und organisierte beispielsweise Fußballspiele für die Jugendlichen im Ort.
Nachdem die Grube geschlossen wurde, hatte er die verschiedensten Jobs bis er den Pub „The Old Oak“ übernahm, den seine Mutter von dem Geld gekauft hatte, das sie als Entschädigung für den Tod von TJs Vater bekam. Seine besten Zeiten hatte „The Old Oak“ natürlich als die Grube noch offen war und das Dorfleben florierte. Mit der Schließung der Grube brach die Wirtschaft in der Gegend zusammen und TJ schaffte es trotzdem immer wieder, „The Old Oak“ offen zu halten. Es ist der letzte offene Pub im Dorf.
Genau wie sein Pub hat es aber auch TJ schwer. Seine Ehe ist gescheitert, sein einziger Sohn lebt weit weg und er hat sich aus dem Dorfleben zurückgezogen und kümmert sich nur noch um den Fortbestand seines Pubs. Er versteht die politischen und sozialen Hintergründe zwar nur zu gut, aber hat den Willen verloren, sich dagegen zu wehren. Wie so viele andere weiß auch er, wer für das Elend verantwortlich ist und dass sie verraten wurden von denen, die nur vorgegeben hatten, sich für die Region einzusetzen. TJs bester Freund ist seine kleine Hündin Marra, die nichts wirklich von ihm fordert und immer für ihn da ist.
Mit den syrischen Neuankömmlingen kommen neue Herausforderungen auf ihn zu und jetzt ist er zur Stelle. Wie er damit umgeht, steht im Zentrum dieser Geschichte. Auch wenn er kaum noch Optimismus übrighat, berührt ihn die Begegnung mit Yara und den anderen Syrern sehr. Die Frage ist nur, ob er noch genug Kampfgeist in sich trägt, sich in der gespaltenen Dorfgemeinschaft für die neuen Mitbewohner einzusetzen und etwas zu bewirken.
Mit Dave Turner zusammenzuarbeiten, der diesen TJ spielt, war ein echtes Vergnügen. Er kannte seine Geschichte in- und auswendig. Er hat auch ein Pub geführt. Aber noch wichtiger ist, er lebte gewissermaßen diese Geschichte, während wir sie Tag für Tag filmten. Niemand anderes hätte besser passen können für diese Rolle.
Wer ist Yara?
Die anfang-zwanzigjährige Yara ist das älteste von Fatimas Kindern. Sie und ihre Familie entkamen dem Krieg in Syrien und lebten längere Zeit in einem Flüchtlingslager. Für Yara wurde diese Zeit zu einer ebenso prägenden wie einschneidenden Erfahrung. Internationale Freiwillige nahmen sie unter ihre Fittiche, sie lernte verschiedene Sprachen, vor allem Englisch, arbeitete mit Organisatoren, Lehrern und Ärzten zusammen und wurde so zum Bindeglied zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen. Diese Erfahrungen sorgten auch dafür, dass sich ihre Einstellungen änderten, internationaler und kosmopolitischer wurden, wodurch es sicherlich auch zu Problemen mit ihrer Mutter kam, die aber glücklicherweise gelöst werden konnten.
Yaras Vater spielt eine wichtige Rolle für sie. Er ist Schneider, ein begabter Handwerker, ein nachdenklicher Mann und ein fürsorglicher Vater. Wie für seine anderen Kinder will er das Beste für Yara, deren großes Talent er längst erkannt hat. Yaras Eltern stehen sich nahe, sie ist in einer gut funktionierenden Familie eingebunden, aber dann gerät ihr Vater in Konflikt mit den Behörden und sitzt nun in Syrien im Gefängnis.
Die Familie wurde in einem Dorf an der englischen Nordostküste untergebracht. Die Strände sind mit Industrieabfällen verschmutzt, die erste Begegnung mit den Einheimischen ist feindselig. So stellt sich die Situation für Yara dar, und natürlich ist sie es, die als erste in Kontakt tritt mit dieser neuen, ungewohnten Welt um sie herum, weil sie die Sprache beherrscht. Trotzdem erfordert das natürlich großen Mut, sich einer Gruppe fremder Menschen zu stellen. Genau das beeindruckt TJ sehr und das ist der Beginn ihrer Freundschaft.
Auf der Suche nach der richtigen Besetzung für Yara haben wir uns mit jungen Frauen hier und in Syrien getroffen. Andere Regisseure und Freunde haben uns viele Vorschläge gemacht und wir hatten zahllose Zoom-Calls und drei Treffen in Newcastle. Am nächsten kam Ebla der Yara wie Paul sie geschrieben hat, und wie bei Dave Turner wurde auch Ebla gleich vom ersten Tag an zu Yara. Ihre unkomplizierte und direkte Art, ihre Wärme und ihr Einfühlungsvermögen machten sie sofort zu einem festen Bestandteil des Teams. Manchmal merkte Ebla nicht mal, dass die Kamera sie im Fokus hatte, aber selbst dann leuchteten ihre Augen und sie war selbst dann genauso konzentriert und engagiert in ihrer Rolle, wie in jedem anderen Moment.
Wer ist Charlie?
Er ist ein Jugendfreund von TJ. Die beiden sind zusammen aufgewachsen. Ihre Familien waren sich nahe und auch ihr Erwachsenenleben folgte ähnlichen Wegen. Charlie ist ein gutherziger Mensch und während sich TJ in der Gemeinde engagierte, konzentrierte sich Charlie auf seine Familie, auf seine Kinder.
Das Reihenhaus, in dem sie lange zur Miete wohnten, kauften Charlie und seine Frau Mary schließlich, als es zu einem günstigen Preis angeboten wurde. Es sollte eine sichere Investition und ihr dauerhaftes Zuhause sein, aber dann kam ihnen das Pech in die Quere. Seit ihrer
schweren Erkrankung ist Mary an einen Rollstuhl gefesselt, die Familien um sie herum zogen weg, die Häuser wurden billiger und mit den neuen Nachbarn verschwand das Gemeinschaftsgefühl in ihrer Gegend. So stecken Charlie und Mary nun fest und vom erträumten sicheren Ruhestand ist keine Spur mehr zu erkennen.
Wie so viele hat Charlie das Gefühl, man hätte ihn im Stich gelassen. „The Old Oak“ ist sein Stammlokal. Hier kann er in Ruhe mit Freunden ein Bier trinken, wenn er sich nicht um seine Frau kümmert. Mary und er sind stolz auf ihr Leben und ihre Kinder, aber viel ist nicht mehr übrig, dass ihm noch Trost gibt und jedes weitere Problem könnte ihn zerbrechen lassen. Selbst ein gutherziger Mensch kann nur ein bestimmtes Maß ertragen.
Gespielt wurde Charlie von Trevor Fox, der so etwas wie ein ruhender Pol im Team war. Er ist nicht nur ein hervorragender, erfahrener Schauspieler, er stammt auch aus dem Nordosten Englands und lebt auch immer noch genau in dieser Welt und mit den Menschen, die Paul in seinem Drehbuch beschreibt. Trevor konnte die Frustration Charlies nachvollziehen, sein Festhalten an all dem, was vertraut ist. Charlie kann sich durchaus an die Solidarität der Bergarbeiter während des Streiks erinnern, an das, wofür sie gekämpft haben, an die Prinzipien, und ihm ist klar, dass diese Prinzipien in unserer heutigen von Individualismus geprägten Welt immer unwichtiger zu sein scheinen. Charlie würde es zwar nicht so ausdrücken, aber er würde es genauso empfinden. Verzweiflung und Frustration können uns jedenfalls zu extremen Taten und Haltungen verleiten - und diesen entscheidenden Aspekt unserer Geschichte hat Trevor perfekt verkörpert.
Sie lassen die Geschichte 2016 in einem nicht genau benannten Dorf spielen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
2016 war ganz einfach das Jahr, in dem die ersten Flüchtlinge aus Syrien dort ankamen, offenbar ohne dass die Gemeinden wirklich darauf vorbereitet gewesen wären. In diesem Jahr passierte die Geschichte, die Pauls Drehbuch zu „The Old Oak“ inspiriert hat, als ein Bus mit ankommenden Flüchtlingen dort angefeindet wurde und es viel harter Arbeit bedurfte, um eine gute Beziehung zwischen den syrischen Familien und den alteingesessenen, dort lebenden Menschen aufzubauen.
In der Zeit, in der wir den Film vorbereiteten, war der Durham County Council, wo wir gedreht haben, aber äußerst hilfsbereit und die syrischen Familien fühlten sich aufgenommen. Es gab zwar immer noch Geschichten über willkürliche Anfeindungen, aber deutlich weniger als in den Jahren davor. Für Unruhe sorgen eher die Regierungsentscheidungen. Warum werden Flüchtlinge in benachteiligten Gebieten untergebracht, in denen die Menschen schon so lange so wenig haben und so lange Vernachlässigung erleben, dass das nicht mal mehr in den Nachrichten erwähnt wird? Nun, die Antwort lässt sich problemlos aus der Frage ablesen.
Das Dorf, das wir im Film zeigen, haben wir als fiktiven Stellvertreter für so viele Dörfer in dieser Region bewusst namenlos gehalten. Gedreht haben wir in Easington, weil Paul das Meer zu einem wichtigen Teil der Geschichte gemacht hatte, und obwohl der Strand von Easington zwar nicht mehr schwarz ist durch angeschwemmte Kohle, ist er immer noch von Industrieabfällen geprägt. Im benachbarten Ort Horden fanden wir eine visuell beeindruckende Ansammlung von historischen Reihenhäusern als klassisches Beispiel traditioneller Bergarbeiterhäuser in der Nähe der Grube. Unser Pub „The Old Oak“ fanden wir in Murton mit einem leerstehenden Pub in einem schönen Gebäude und einem entgegenkommenden Besitzer. So wie dort hätten wir aber auch an vielen anderen Orten der Region drehen können, weil unsere Geschichte in fast allen von ihnen hätte spielen können.
Die drei Filme, die ich im Nordosten Englands gedreht habe, waren eine beeindruckende Erfahrung für mich. Die Klischees, die man immer wieder über diese Region hört, stimmen: hier leben warmherzige, großzügige Menschen, es gibt eine atemberaubende Landschaft und eine Gemeinschaftskultur, die von Entbehrungen, Kampf und Solidarität geprägt wurde.
Auch wenn sie sich in den Details unterscheiden, gilt das auch für die anderen Arbeiter-Viertel und Gegenden, in denen wir Filme gedreht haben. Seien es Glasgow und Clydeside, Liverpool und Manchester, South Yorkshire und andere. Wir haben diese Orte nicht zufällig ausgewählt, hier haben große Schriftsteller ihre wichtigen Geschichten geschrieben. Und natürlich gibt es noch andere Regionen, in denen Härte, andauernder Kampf und große Solidarität Teil der DNA sind. Und nicht zuletzt natürlich unsere menschliche Stärke und Entschlossenheit, die uns eines Tages hoffentlich so weit bringt, dass wir wirklich zusammenfinden und es nicht mehr nötig ist, zu kämpfen. Wir haben lange genug gewartet.
Ken Loach - Die leise Kino-Wucht für eine gerechtere Welt
Man kann Ken Loach mit Superlativen beschreiben, als wahrscheinlich größten Star des sozialkritischen Kinos oder als bis heute verehrten Regiealtmeister, man kann die zwei Goldenen Palmen erwähnen, die er in Cannes gewann, man kann versuchen, die zahlreichen Auszeichnungen seiner knapp 60jährigen und über 30 Kinofilme umfassenden Karriere aufzulisten... Damit allerdings würde man seiner Bedeutung als Filmemacher und als Stimme der Gerechtigkeit nur im Ansatz näher kommen. Von seinem zweiten Film KES, der 1999 vom British Film Institute auf Platz 7 der 100 besten britischen Filme des 20. Jahrhunderts gewählt wurde, bis zu seinem nun wahrscheinlich wirklich letzten Film THE OLD OAK, der im Mai 2023 seine Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes feierte, steht jedes seiner Leinwandwerke für sich und erzählt hingebungsvoll von Menschen in einer ungerechten Welt.
„Interessante Storys ohne größere Bedeutung braucht man nicht, ich will Geschichten, die etwas über diese Welt erzählen, in der diese Charaktere meiner Filme leben.“ - Ken Loach
Ob mit CARLA’S SONG über den sandinistischen Bürgerkrieg, dem ersten von 14 Filmen, die er ausnahmslos mit THE OLD OAK Drehbuchautor Paul Laverty verwirklicht hat, ob mal romantischer mit JUST A KISS oder mal komödiantischer mit ANGEL‘S SHARE - EIN SCHLUCK FÜR DIE ENGEL und LOOKING FOR ERIC, Loach erzählt immer wieder und unermüdlich von Einzelschicksalen und Geschichten von Menschen, die abgehängt, links liegen gelassen oder in eine Ecke am Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Seine Heldinnen und Helden, die er gerne regelmäßig mit Schauspiel-Laien besetzt hat, um in improvisiertem Nachleben vor der Kamera für noch mehr Realitätsnähe zu sorgen, kommen häufig wie jetzt auch in THE OLD OAK aus der Arbeiterklasse oder sind politisch, religiös oder gesellschaftlich benachteiligt. Natürlich, Ken Loach, als lebenslanger Sozialist im Orbit des Marximus, hat eine Botschaft, der er 6 Jahrzehnte lang treu geblieben ist. Er sieht sich als Erzähler durchaus als Anwalt der vermeintlich Schwachen. Er kämpft mit seinen Filmen für seine Überzeugungen und gegen Ungerechtigkeit oder Ausbeutung.
„Nichts wird sich verändern solange wir das System nicht ändern.“ - Ken Loach
Doch auch wenn sich seine politische Haltung, seine Werte, seine Sicht auf unsere Welt in jedem seiner Filme erkennen lassen, sind sie nie verkrampfte Sozialkritik, sondern geprägt von tiefster Menschlichkeit, genauer Beobachtung und manchmal sogar feinem Witz. Ken Loach stellt sich nie über die Geschichten, die er erzählt, und die Menschen, von denen er erzählt, sondern in ihren Dienst. So unbeirrbar seine Haltung ist, so sehr er als intellektuelle Stimme und als politischer Mahner gilt, so unaufdringlich und warmherzig sind seine Filme. Sein Stil war und ist, den Charakteren in seinen Filmen zu folgen, sie selbst erzählen zu lassen - hinzuschauen, zuzuhören. Nie geht es nur darum, etwas zu sagen zu haben. Seine zurückhaltende Art, seine zierliche Statur, sein Ruf als Gesprächspartner und Regisseur sollten allerdings nie darüber hinwegtäuschen, dass er eine klare Vision hat.
„Einen Film bis zum Ende durchzuziehen funktioniert nicht in ‚sanft‘, nur mit Entschlossenheit.“ - Ken Loach
Und genau diese Entschlossenheit zeigt sich nicht nur bei jedem seiner Filme, sondern nicht zuletzt dadurch, dass er nie aufgehört hat Filme zu machen, dass der mittlerweile 87jährige erst jetzt vielleicht wirklich mit THE OLD OAK seinen letzten Film gedreht hat, obwohl er schon vor vier Filmen und fast 10 Jahren bei JIMMY’S HALL seinen Ruhestand angekündigt hatte - aber immer noch eine Geschichte mehr erzählen wollte.
„Morgens denke ich, oh je, ich kann das nicht mehr. Aber Nachmittags zum Kaffee, denk ich schon wieder: Vielleicht. Also warten wir‘s ab.“ - Ken Loach
FILMOGRAPHIE KEN LOACH (Auswahl)
2023 THE OLD OAK
2019 SORRY WE MISSED YOU
2016 I, DANIEL BLAKE (ICH, DANIEL BLAKE)
2014 JIMMY’S HALL
2011 ROUTE IRISH
2009 LOOKING FOR ERIC
2007 IT’S A FREE WORLD
2006 THE WIND THA T SHAKES THE BARLEY
2004 AE FOND KISS (JUST A KISS)
2002 SWEET SIXTEEN
2000 BREAD AND ROSES (BROT UND ROSEN)
1998 MY NAME IS JOE (MEIN NAME IST JOE)
1996 THE FLICKERING FLAME (DIE DOCKER VON LIVERPOOL) 1996 CARLAS SONG
1995 LAND AND FREEDOM
1994 LADYBIRD LADYBIRD
1993 RAINING STONES
1991 RIFF-RAFF
1990 GEHEIMPROTOKOLL (HIDDEN AGENDA)
1986 VATERLAND (FATHERLAND)
1985 WHICH SIDE ARE YOU ON
1981 LOOKS AND SMILES
1980 THE GAMEKEEPER
1979 BLACK JACK, DER GALGENVOGEL
1971 FAMILY LIFE
1969 KES
Foto:
© Verleih
Info:
THE OLD OAKLaufzeit: 114 Minuten Kinostart: 23. November 2023Im Verleih von Wild Bunch Germany
BESETZUNG
TJ Ballantyne. Dave Turner
Yara. Ebla Mari
Laura Claire Rodgerson
Charlie Trevor Fox
Vic. Chris McGlade
STAB
Regie. Ken Loach
Drehbuch. Paul Laverty
Abdruck aus dem Presseheft