Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. November 2023, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wirklich erstaunlich, wie die Wander- und einsamkeitsuchenden Filme zunehmen, parallel zu den Büchern, die fast immer zuerst da sind. Fast immer auch Aussteigerszenarien entwickeln, weil die Natur das heilen soll, was das Leben dieses einen Menschen kaputt gemacht hatte. Die Sehnsucht nach Heilung, nach Ganzwerdung ist tief im Menschen verankert. Oft kommt sie nur ans Tageslicht, wenn das normale, das tätige, das hektische, das mehr oder minder erfolgreiche Leben durch einen Unfall oder ein anderes äußeres Geschehen in Gang gesetzt wird.
So auch hier, wo eine in einem Buch festgehaltene echte Geschichte auf der Leinwand von Jean Dujardin dargestellt wird. In Frankreich ist er ein großer Star, wir lernten ihn mit einem Schlag im oscargekrönten Film DER ARTIST kennen, wo er einen Stummfilmstar darstellte, der im Übergang zum Tonfilm abwirtschaftet, während seine Partnerin, dargestellt von Bérénice Bejo, Erfolge feiert. Nie wieder sah man diese beiden Schauspieler so schön. Fünf Oscars, einer davon für Dujardin. Das war 2011 und heute ist er ein Mann in den besten Jahren, angegraut und eigentlich gerade fast gestorben. In diesem Film, denn nach einer ausufernden Partynacht, mit viel Alkohol also, stürzt der besoffene Abenteurer und Schriftsteller Pierre vom Balkon nach unten und überlebt knapp. Nach Koma und Zusammengeflickt werden, will er es sich und allen zeigen und Frankreich einmal schräg durchwandern, vom Südosten, der Provence, bis an die Küste der Normandie, insgesamt 1300 Kilometer, vgl. Zeichnung.
Das könnte für einen Film trotz spektakulärer Naturaufnahmen etwas fade werden, doch die Dramaturgie von Buch und Film schaffen es, daß es nie langweilig wird. Da gibt es einerseits die gewollten oder zufälligen Begegnungen mit Menschen unterwegs und wer je so etwas erlebt hat, der weiß, daß beim gemeinsamen Laufen, dem Steigen die Berge hinauf, wenn die Dörfer immer kleiner werden und die Menschen längst nicht mehr zu sehen sind, eine Erhabenheit eintritt, die sich auch mitmenschlich dem zufälligen Begleiter gegenüber äußert. Man ist unterwegs ein anderer. Man spricht anders, denkt anders, wobei das gerade das Problem des bisherigen Hasardeurs Pierre ist. Er will die Kontrolle behalten, über sich, über die Situation, über andere. Sein Weg, sein Lernweg wird also auch sein, sein Ego zurückzunehmen. Die Zufallsbekanntschaft mit dem jungen Mann (Dylan Robert), die zu gemeinsamen Wandern und Bergsteigen führt, gibt beiden viel. Und als sein bester Freund (Jonathan Zaccai) einige Tage mitwandert, erfahren wir viel Neues aus dem bisherigen Leben des umtriebigen Pierre. Klar, daß auch dieser Gewaltmarsch ein Sieg des Geistes über die Materie sein soll und sein wird. Denn ein Pierre muß immer das Tollste vollbringen.
Andere Seiten werden angeschlagen, als er mit seiner jüngeren Schwester Céline (Izïa Higelin) wandert, da spielt der familiäre Hintergrund eine Rolle, der Tod der Mutter und zeigt uns wiederum eine andere Seite des Helden, der seine Seele durch seinen geschundenen Körper heilen will, wobei auch das Umgekehrte gilt: die geschundene Seele durch den immer wieder schmerzenden Körper, durch die Erhabenheit der Landschaft, durch die Gerüche, die Nahsicht und Fernsicht, die Himmelsfärbungen, die Pflanzen und Tiere unterwegs, die Steine nicht zu vergessen. Über Stock und Stein.
Das Besondere am Weg ist nämlich, daß er nicht ausgetretenen Pfaden folgt, sondern das ist und bedeutet, was im Arabischen Rub al-Khali heißt, eine Gegend, wo keiner hinkommt, die durch ihre überdimensionierte Leere charakterisiert ist. Das leere Viertel.. Auch das gibt es im vielbevölkerten Frankreich bis heute. Es sind ‚chemins noirs‘, geheime Wege, die seit dem Mittelalter Fluchtwege waren, den Verfolgern unbekannt; insbesondere die ‚Diagonale du vide‘ ist echt eine leere Gegend, die in der Mitte Frankreichs liegend, kaum bevölkert ist.
Der Film ist also über eine persönliche Nabelschau hinaus eine hinreißende Naturdarstellung, wo man manchmal denkt, daß dieser eine Mensch so klein und nebensächlich und irgendwann tot ist, diese wilde, mal spröde, mal wuchernde Natur uns alle überlebt.
Wäre nicht Ende November, man würde sofort die Wanderschuhe anlegen und losziehen wollen oder die Schuhe anziehen und loslegen, so motivierend ist die Bewegung durch diese berührende, abweisende, hinreißende, unberührte Natur.
Fotos:
Verleih
Info:
AUF DEM WEG
(OT: SUR LES CHEMINS NOIRS)
Drehbuch DIASTÈME, DENIS IMBERT
Nach der Erzählung „auf versunkenen wegen“ von SYLVAIN TESSON
Regie DENIS IMBERT
Darsteller Pierre Jean Dujardin
AUF DEM WEG ist eine Produktion von Radar Films, La Production Dujardin, TF1 Studio, Apollo Films, Echo Studio, France 3 Cinema, Auvergne-Rhône-Alpes Cinéma, unter Beteiligung von France Télévisions la région Auvergne-Rhône-Alpes und dem CNC OCS, mit der Unterstützung vom Institut national de l’information géographique et forestière und der Unterstützung des Département des Alpes de Haute-Provence und Alpes-Maritimes.
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