Bildschirmfoto 2023 12 28 um 00.21.09Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. Dezember 2023, Teil 1

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - WOHER STAMMT DIE IDEE FÜR DEN FILM?

Éric Toledano: Während des Lockdowns haben wir unsere Arbeit an einem Filmprojekt unterbrochen, weil diese in Stillstand versetzte Welt neue Fragen aufwarf. Einerseits beschäftigten wir uns mit der zweiten Staffel von „In Therapie“, die sich mit den direkten Auswirkungen der Pandemie und der Isolation auf die Psyche der Franzosen befassen sollte, andererseits wollten wir uns aber auch weiter gefasste Fragen stellen und uns allen Diskursen über die berühmte „Welt danach“ öffnen. Welche neue Welt würde da auf uns zukommen? Diese Welt, von der einige befürchteten, sie sei nicht mehr die, die wir kennen. Bilder drängten sich auf: menschenleere Straßen, verschlossene Geschäfte, Flugzeuge, die am Boden blieben, Menschen, die jeden Abend um 20 Uhr an ihren Fenstern applaudierten ... Und andere Bilder tauchten auf, wie im Widerspruch zu dieser Leere, die wir damals alle erlebten: die Beschwörung des Überflusses in unseren ständig wachsenden Gesellschaften. Wir fanden in den Sozialen Medien ein Video von jungen Aktivisten, die versuchten, eine Menschenmenge daran zu hindern, am „Black Friday“ ein Kaufhaus zu stürmen. Wir sahen darin eine Momentaufnahme der damaligen Zeit: zwei Weltanschauungen, die aufeinanderprallten. Der Film entstand auf diese Weise, in zwei Blöcken, in Feld und Gegenfeld, in zwei Bewegungen, wie ein Walzer.


Olivier Nakache: Angesichts dieses Gegensatzes fragten wir uns, wer sind die Menschen, die in die Läden drängen, und wer sind die, die sich ihnen entgegenstellen. Wir haben viel recherchiert, nachgeforscht und trafen uns mit diesen Menschen, um sie besser zu verstehen. Das Thema der Überschuldung tauchte bald auf. Wir hatten uns schon seit einiger Zeit für diese Thematik interessiert, denn sie sagt viel aus über unseren Wunsch, mit anderen mitzuhalten, aber auch über die Gier der Kreditinstitute, die viele Menschen in die Schuldenfalle lockt und jede Perspektive nimmt. Wir haben uns eingehend mit dem Thema befasst, um alle – manchmal mühsamen – Schritte bis hin zu einer möglichen Schuldentilgung bei der Banque de France zu kennen ...

Und wer sind die Umweltaktivisten auf der anderen Seite? Vor allem die Aktivistinnen, denn bei unseren Recherchen waren es oft die so kämpferischen Frauen, die uns am meisten beeindruckt haben. Wir haben mehr als eine „Kaktus“ getroffen! Zu Beginn unserer Recherchen wurden wir tatsächlich von einer Kaktus begrüßt. Wir haben sie ein wenig modelliert, um die Figur zu erschaffen, die von Noémie Merlant gespielt wird. Sie hat übrigens einige Zeit mit der „echten“ Kaktus verbracht hat, um sich auf die Rolle vorzubereiten.


Éric Toledano: Wir sind in den 1980er Jahren aufgewachsen. Unsere Generation war eine Generation des ungezügelten Konsums und Überflusses. Und dann wacht man eines Tages auf, und die eigenen Kinder reden von Mauern, Zusammenbrüchen und der Notwendigkeit von Veränderung. Junge Leute leiden immer mehr unter einer Art „Öko-Angst“. Das ist auch der Grund, warum wir im Film oft Brücken als Bilder nutzen. Wir wollten zwei Themen miteinander verbinden, wie zwei Flussufer – Überschuldung und Umwelt – die augenscheinlich nicht viel miteinander zu tun zu haben. Dennoch können die leeren Wohnungen mehrere Geschichten in sich tragen: den kürzlichen Besuch eines Gerichtsvollziehers oder den Willen zu Entbehrung, zu Minimalismus oder auch „Degrowth“.

Die vier Jahre mit „In Therapie“ übersteht man nicht unbeschadet. Für uns muss der Ernst und die Brutalität unserer Zeit durch ein gemeinsames Lachen ausgeglichen werden, daher brauchten wir unbedingt eine Komödie. Lachen, wenn wir eigentlich weinen sollten. So konnten wir uns denselben Überlegungen und Beobachtungen mit Humor nähern. Die Komödie ist ein idealer Beobachtungsposten, ein Sozialbarometer, das auch eine echte Gewissensprüfung provoziert.


HATTEN SIE BESTIMMTE VORSTELLUNGEN VON DER INSZENIERUNG?

Olivier Nakache: Sicher war, dass wir viel Energie und Bewegung wollten! Und diese Art der Inszenierung war auch ausschlaggebend für die Wahl der Themen. Ob „Black Friday“ oder die Aktionen von Umweltaktivisten, diese menschlichen Aktivitäten sind spannend und inspirierend zu filmen. Es war auch eine Reaktion auf die vier Jahre „In Therapie“, in denen wir uns darauf konzentrierten, Gesichter und Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen in einer Praxis zu filmen; es gab zwangsläufig ein Bedürfnis, hinauszugehen und nach neuen Herausforderungen zu suchen. Aber neben diesen Aktionen der Aktivisten ist es die „Öko-Angst“, die wir in Szene setzen wollten.

Éric Toledano: Außerdem sind solche Szenen bislang selten gefilmt worden. Neue Bilder zu schaffen, ist Teil unseres filmischen Vergnügens.


WIE ZU BEGINN VON „ALLES AUSSER GEWÖHNLICH“ BEGINNT „BLACK FRIDAY FOR FUTURE“ MIT EINER SZENE, IN DER VERSCHIEDENE PERSONEN AN EINEM ORT ZUSAMMENKOMMEN. FILMEN SIE GERNE MENSCHEN IN BEWEGUNG?

Éric Toledano: Stimmt. Unterbewusst wollten wir wohl von den Bewegungen in der Gesellschaft erzählen. Wie Menschen von entgegengesetzten Seiten des Spektrums sich letztendlich annähern können. Das ist eines unserer ständigen Motive. Die Eröffnungssequenz unserer Filme kündigt oft das Tempo und die allgemeine Bewegung an.
Olivier Nakache: In diesem Film laufen die Menschen entweder hin zum Exzess oder davor weg.


DIE ITALIENISCHE KOMÖDIE HAT IHRE FILME SCHON IMMER – MAL MEHR, MAL WENIGER – GEPRÄGT, ABER HIER STEHEN SIE ZU 100 PROZENT ZU DIESEM SCHWARZEN HUMOR.

Éric Toledano: Das ist unser achter Film. Die sieben vorherigen Filme bilden einen Zyklus, in dem unsere Helden ziemlich liebenswert waren. Da das größte Risiko darin besteht, sich zu wiederholen, wollten wir dieses Mal die italienische Komödie nicht nur als eine Art Inspirationsquelle, sondern als Vorbild sehen. Indem wir Ironie, Satire und Farce einsetzen, all diese Elemente, die dazu dienen, unser Thema besser zu erfassen, damit der Fluss tumultartiger wird, mit mehr Strömungen und Gegenströmungen, um zu stoßen, zu verstören, überzulaufen, um eine Gesellschaft im Wandel und in der Dekonstruktion zu beschreiben.

Olivier Nakache: Romain Gary schrieb: „Humor ist ein Beweis der Überlegenheit des Menschen gegenüber allem, was ihm widerfährt.“ Von Ettore Scola bis Dino Risi bestand die Genialität des italienischen Kinos der 70er Jahre darin, über die Torturen des Alltags zu lachen, die man Tag für Tag erlebt. Yves Robert oder Claude Lelouch in DIE ENTFÜHRER LASSEN GRÜSSEN, um nur ein Beispiel zu nennen, machten sich diesen Geist zu eigen. Auf unserer Premierentour bezeichnete dies eine Zuschauerin als das „fröhliche Unglück“.


INDEM SIE DEN REGLER FÜR SCHWARZEN HUMOR NACH OBEN SCHIEBEN, NEHMEN SIE IN KAUF, DASS IHRE CHARAKTERE NICHT SO LIEBENSWERT ERSCHEINEN?

Olivier Nakache: Ja, in der italienischen Komödie ist die tödliche Waffe die Figur: durchtrieben, manchmal unehrlich, unverantwortlich, vom Pech verfolgt, angeberisch – und auf der Suche nach menschlicher Würde, nach sozialer Anerkennung oder Liebe. Die Herausforderung bestand darin, diese Verlierer in einer scheinbar chronologischen Unordnung liebenswert zu machen, die eine normale Linearität niemals vermitteln würde. Hier akzeptieren wir ungeniert, dass unsere Helden an Punkt A beginnen, um ... zu Punkt A zurückzukehren.

Éric Toledano: Das haben wir zum Teil schon in unserem dritten Film TELLEMENT PROCHES versucht, in dem angespannte familiäre Beziehungen im Zentrum stehen, die von Liebe, Verachtung und  Abhängigkeit geprägt sind. Außerdem werden wir einfach älter: Wir sind vielleicht weniger optimistisch als früher! Die Frage nach der ethischen Verantwortung stellt sich, und heute wird es unmöglich zu sagen: „Nach mir die Sintflut.“


WIE TARIERT MAN DIE KRÄFTE VON FIGUREN ZWISCHEN ZWEI GEGENSÄTZLICHEN LAGERN AUS: KONSUMVERRÜCKTE UND RADIKALE UMWELTSCHÜTZER?

Éric Toledano: Indem wir hinter der Kamera bleiben und unseren Blickwinkel nutzen, um zu unterhalten, aber auch um zu provozieren. Die beiden Lager stehen symbolisch für die Widersprüche unserer Zeit. Indem wir die verschiedenen Standpunkte unvoreingenommen betrachten, ohne den einen oder den anderen zu bevorteilen und ohne der Geschichte eine Moral aufzuerlegen. Einer der Meister der italienischen Komödie, Dino Risi, sagte einmal: „Ich hasse Moralismus. Für mich kommt kein Licht von der Leinwand, das dem Publikum sagt, was es denken soll.“

Olivier Nakache: Indem man versucht, das Mehr und das Weniger, das Volle und das Leere zu beschreiben ... indem man eintaucht, indem man lange Zeit sowohl mit dem Verein „Crésus“, der überschuldeten Menschen hilft, verbringt als auch mit „Extinction Rebellion“ und deren Mantras und Codes kennenlernt ...

Éric Toledano: Zum Beispiel sind die Pseudonyme im Film, Quinoa, Kaktus, Antilope, authentisch, sie sind wirklich die Codes der radikalen ökologischen Bewegung. Denn in diesem Milieu weigern sich alle, einen Aktivisten nach seinem Vornamen zu beurteilen, der eine soziale oder ethnische Herkunft verraten könnte. Wie in der Szene auf dem Polizeirevier, in der Noémie Merlant ihren Personalausweis abgeben
muss, haben wir die wahren Identitäten dieser Personen erst erfahren, als sie zur Arbeit ans Filmset kamen.


„ARBEIT AM FILMSET“ – WAS BEDEUTET DAS?

Olivier Nakache: Alle Personen um die Hauptdarsteller herum sind Aktivisten, die wir für die Szenen auf der Fashion Week, auf dem Rollfeld oder bei der Demonstration vor der Banque de France rekrutiert haben. Sie haben uns gesagt: „Wir machen Aktionen, damit man über uns spricht, und ihr sprecht über uns, also sind wir dabei.“ Wir lieben gemischte Besetzungen, Profis und Laien, jeder hat eine eigene Herausforderung zu meistern. Es war lustig, denn oft fanden diese jungen Aktivisten uns sogar ein bisschen zu seicht in der Satire!


WIE FILMT MAN AM FLUGHAFEN ROISSY ODER VOR DER BANQUE DE FRANCE?

Éric Toledano: Normalerweise sind die Reaktionen auf Anfragen für Filmaufnahmen positiv, und wir erhalten in der Regel eine Drehgenehmigung, aber dieses Mal war es etwas komplizierter ... Wir wurden so ziemlich überall abgewiesen. Kein Einkaufszentrum wollte uns den „Black Friday“ nachstellen lassen, und die Flughäfen waren zurückhaltend, bevor wir mit Roissy und Châteauroux verhandeln konnten. Was die Banque de France betrifft, so ist es nicht DIE Banque de France.

Olivier Nakache: Es ist ein Gebäude, das diesem sehr ähnlich sieht.

Éric Toledano: Das ist die Académie du Climat! Mit ein wenig Make- up.


LASSEN SIE UNS ÜBER DIE BESETZUNG SPRECHEN ...

Olivier Nakache: Pio Marmaï war von Anfang an dabei und hat unser Schreiben angeregt. Wir dachten an ein Duo mit Alban Ivanov. Leider fühlte sich Alban kurz vor Beginn der Dreharbeiten nicht mehr in der Lage, den Film zu machen. Am selben Tag trafen wir uns mit Jonathan Cohen in einem Café und der Rest ist Geschichte.

Éric Toledano: Er fühlte sich sehr geschmeichelt, wollte uns aber unbedingt darauf hinweisen, dass er gerade sechs Monate lang nonstop gedreht hatte und nun am Ende seiner Kräfte war. Wir sagten ihm, dass es für seine Figur mit dem Spitznamen „Lexo“ nicht passender sein könnte: Er solle einfach so kommen wie er ist, mit Dreitagebart und völlig ausgelaugt! In einigen Szenen haben wir versucht, ihn in Richtung Pathos eines Vittorio Gassman zu bringen ...


WIE ZUM BEISPIEL IN DEM RÜHRENDEN MOMENT, ALS ER ZU SEINER EX-FRAU „ICH RIECHE DICH“ SAGT ... IST MAN GLÜCKLICH, WENN MAN EINE SOLCHE ZEILE FINDET?

Éric Toledano: Das ist eine sehr persönliche Anekdote mit einem meiner Kinder. Ich bin froh, dass Jonathan sie so sublimiert hat. Wenn er sagt: „Ich habe nicht 'Ich liebe dich' gesagt, sondern 'Ich rieche dich'“, ist sie fast etwas von ihrem Ex-Mann berührt, der sie doch in eine schwierige Lage gebracht hat. Sie könnte rückfällig werden ... Das ist der italienische Held: Er ist nicht liebenswert, aber es ist so schwer, sich von ihm zu lösen. Ein wunderbarer Verlierer.

Olivier Nakache: Weil er nicht weiß, dass er ein Verlierer ist. Von dem Moment an, als Jonathan an Bord kam, haben wir Dinge für ihn umgeschrieben. Am Ende bekam Pio die Rolle von Alban und Jonathan die von Pio.


UND NOÉMIE MERLANT? HATTEN SIE IMMER AN SIE GEDACHT?

Olivier Nakache: In unseren Filmen gibt es viele männliche Duos, aber hier wollten wir unbedingt ein Trio mit einer Heldin. Wir hatten sie in dem Film von Céline Sciamma und in Jacques Audiards WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT bewundert. Wir waren von ihrem schauspielerischen Können überzeugt. Sie erklärte sich freundlicherweise bereit, Probeaufnahmen zu machen, und nach einer Minute wussten wir, dass sie großartig sein würde. Dann, während der Vorbereitung des Films, sahen wir L'INNOCENT von Louis Garrel, in dem ihr komödiantisches Talent zum Vorschein kommt. Selbst ihre Korrektheit ist eine Quelle der Komik. Sie fand einen Platz in unserem Film und konnte an der Seite von Pio und Jonathan glänzen, die untereinander sehr eingeschworen waren. Sie steht im Zentrum des Plakats, und das nicht ohne Grund. Und sei es nur ihre Tonlage, wenn sie Pio „Küken“ nennt. Ihr Schauspiel ist ein Wunderwerk an Präzision und Genauigkeit.

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