Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Juni 2014
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) – Auf der letzten Berlinale wurde der neue Spielfilm Richard Linklaters zur Sensation: In „Boyhood“ begleitete er über einen Zeitraum von zwölf Jahren das Erwachsenwerden und Altern seiner Filmfiguren.
BOYHOOD
Samantha (Lorelei Linklater) ist eine extrovertierte Achtjährige, sie tanzt, imitiert Stars und schurigelt gern ihren jüngeren Bruder Mason (Ellar Coltrane). Wenn der sich wehrt, macht sie theatralische Szenen. Die Eltern streiten viel und trennen sich, Mutter Olivia (Patricia Arquette) kehrt mit den Kindern in ihre Heimat zurück, um das College zu besuchen. Mit „Tschüß Haus“ und „Tschüß Blumen“ verabschiedet sich die hinreißende Samantha von ihrem Zuhause.
Olivia beginnt im College eine Affäre mit ihrem Professor, der auch zwei Kinder hat, bald zieht sie mit ihm zusammen. Mit der Zeit geht es in der Patchworkfamilie sehr ruppig zu, der versoffene Professor lässt Mason eine Glatze scheren und entpuppt sich als sadistischer Pedant. Als er gewalttätig wird, verlässt ihn Olivia mit den Kindern. Das ist schon der dramatische Höhepunkt des Films, danach geht es eher ruhiger zu, auch wenn die Mutter nie ihren Traummann findet.
Mitunter verbringen die Kids ein Wochenende mit ihrem Vater, Mason Sr. (Ethan Hawke). Sie hören zu, wenn er Musik macht oder engagieren sich mit ihm im Wahlkampf für Obama. Immer mehr wird Mason Jr. zum Mittelpunkt der Geschichte, wir erleben seine ersten Erfahrungen mit Mädchen, Versuche mit leichten Drogen und sein Interesse für künstlerische Fotos. Der Film endet, als er aufs College geht und die Mutter traurig Abschied von ihm nimmt.
Der Rezensent war vom Casting des Regisseurs begeistert: Wie kann man einander so ähnliche Kinder unterschiedlichen Alters finden, wie können die Erwachsenen so authentisch altern? Erst auf der Pressekonferenz begriff er, dass Linklater mit den gleichen Kids, den gleichen Eltern und anderen gleichen Figuren über einen Zeitraum von 12 Jahren gefilmt hatte. Einmal im Jahr traf man sich für kurze Zeit zum Dreh: Die Kids wurden wirklich älter, die Mutter wirklich fülliger, der Vater wirklich grauhaariger, die Zeit wirklich festgehalten.
Plötzlich, fast zum Ende der Berlinale, war „Boyhood“ die Attraktion. Die Presse orakelte ihn als Gewinner des Goldenen Bären - belohnt wurde er „nur“ mit dem Bären für die beste Regie. Völlig zu Recht, denn der cineastisch beste Berlinale-Film war „Boyhood“ nicht. Linklater hat aber großartig und mit langem Atem umgesetzt, was schon in seiner Sunrise-Trilogie angelegt war, die Fortsetzung einer fiktiven Geschichte in Abständen von vielen Jahren mit den gleichen Schauspielern.
Der Regisseur hat reale Entwicklungen seiner jungen Spieler aufgegriffen, Ellars Interesse für Fotografie oder den Wunsch seiner Tochter Lorelei, als Filmfigur zu verschwinden. Sie stirbt zwar nicht, taucht aber zum Ende kaum noch auf, der Film verwandelt sich von einem Kindheitsfilm zu einem Film über Mason Jr. Bei aller Echtheit der Figuren ist „Boyhood“ keine Dokumentation sondern ein anrührender Spielfilm. Sogar beim zweiten Ansehen verliert der Film nichts von seiner Faszination, wenn man sich öffnet und in den Bildern treiben lässt. Die Figuren werden einem lieb, man trauert oder freut sich mit ihnen, wird Teil von ihrem Leben.
Linklater wollte den Film bewusst nicht dramatisch machen: „Ich habe versucht zu zeigen, wie die Zeit in unserem Leben funktioniert und dachte, der Film könne eine kumulative Macht bekommen. Man sieht wie sich das Leben aufbaut - das wird dann schon ein Drama.“
INFO:
„Boyhood“ USA 2013, 164 Minuten, Kinostart 5. Juni
Regie Richard Linklater mit Patricia Arquette, Ethan Hawke, Ellar Coltrane, Lorelei Linklater
FOTO © UNIVERSAL PICTURES
Schon etwas älter: Samantha (Lorelei Linklater) und ihr kleinerer Bruder Mason (Ellar Coltrane)
Unser Artikel zur Aufführung während des Wettbewerbs der BERLINALE 2014
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/kino/2540-boyhood