Agnieszka Holland
Warschau/Paris (Weltexpresso) – Vor mehr als 30 Jahren habe ich „Europa, Europa“ („Hitlerjunge Salomon“) gedreht, einen Film über einen jüdischen Jungen, der, um den Holocaust zu überleben, zunächst die Identität eines Stalin-kommunistischen Jugendlichen annimmt, dann die eines Wehrmachtssoldaten und eines Schülers an einer Eliteschule der Hitlerjugend, eines jungen Nazis. Es war 1989, die Berliner Mauer war gerade gefallen. Die Dopplung im Titel sollte die Dualität der europäischen Tradition zum Ausdruck bringen: Das Europa unserer Ansprüche, Wiege der Kultur und Zivilisation, die Richtschnur von Rechtsstaat und Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit und Brüderlichkeit – und auf der anderen Seite das Europa als Wiege der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, des Egoismus und des Hasses.
1989, im Jahr des Falls der Berliner Mauer und des Sieges der Solidarność, schien dieses erste Europa zu gewinnen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass die dunkle Seite nur schlief und jederzeit wieder erweckt werden konnte.
Heute, 30 Jahre später, stehen wir vor einem ähnlichen Dilemma. Die „Holocaust-Impfung“ hat aufgehört zu wirken. Das Schlangenei ist gereift. Die westlichen Länder haben nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden, dass das Asylrecht ein grundlegendes Menschenrecht sein muss, um auf moralisch zerstörte Gesellschaften und die Herausforderungen von Ungleichheit zu reagieren. Die Achtung dieses Rechts ist in den letzten Jahren allmählich erodiert, bis hin zu einiger völligen Missachtung in der Europäischen Union, die sich in eine Festung verwandelt, während ihre Feinde – Leute wie Putin oder Lukaschenko – Krieg und Elend von Menschen, die vor Konflikten fliehen, als eine Art hybride Waffe einsetzen.
Im Herbst 2021 wurden ganze Schübe von Geflüchteten aus verschiedenen Ländern (Afghanistan, Syrien, Irak, Jemen, Kongo) von Lukaschenko an die belarussischen Grenzen zu Polen und Litauen gelockt. Lukaschenkos Propaganda machte sie glauben, dass sie die Grenze zur Europäischen Union problemlos überqueren und sich in jenem Paradies wiederfinden könnten, das das reiche, demokratische Europa für die unter Kriegen, Armut und Gewalt leidenden Menschen darstellt. Die polnischen Behörden vergaßen geflissentlich, dass sie es mit lebenden Menschen zu tun hatten, sie betrachteten sie als hybride Raketen und entfachten eine Propaganda, die Drohungen, Ablehnung und Angst verbreitete.
Es waren keine Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchten, sondern Putins Raketen, die unsere heiligen Grenzen angriffen; eine Bande von Terroristen, Kinderschändern und Zoophilen. So hatten die uniformierten Sicherheitskräfte kein Problem damit, das Völkerrecht zu verletzen. Die aufgegriffenen Geflüchteten, darunter Frauen, Kranke, Kinder und Alte, wurden nach Belarussland zurückgetrieben, wo sie Folter, Schläge, Hunger und Vergewaltigung erwarteten; oder sie wurden in der „Todeszone“ ausgesetzt, wo ihnen der Tod in den Wäldern durch Unterkühlung, Verhungern oder Ertrinken in den Sümpfen drohte (und immer noch droht). Der Wald an der polnisch-weißrussischen Grenze ist einer der letzten Urwälder in Europa, monumental und tückisch zugleich. Die Behörden schotteten ihn vor dem Zugang der Medien und jeglicher humanitärer und medizinischer Hilfe ab.
Viele Pol:innen waren mit diesen Methoden einver- standen, und auch die Europäische Union protestierte nicht – glücklich darüber, dass das Problem ohne ihre Mitwirkung gelöst wurde. Doch ein großer Teil der lokalen Bevölkerung und junge Aktivist:innen, die mit dem Leid und der Angst unschuldiger Menschen konfrontiert waren, reagierten normal: Diesen Menschen muss geholfen werden. Das Schicksal dieser Migrant:innen und die humanitäre Katastrophe, der sie an einem Ort begegneten, der weniger als drei Stunden von Warschau entfernt ist, hat mich bewegt: Ich sah in ihrer Situation etwas schneidend Symbolisches und, möglicherweise, ein Vorspiel zu einem Drama, das zum moralischen (und auch politischen) Zusammenbruch unserer Welt führen könnte.
Während ich diese Zeilen schreibe, dauert der tragische Krieg in der Ukraine bereits seit etlichen Monaten an. Die Welt steht, durch den Willen eines einzelnen Diktators, vor der Aussicht eines totalen Wandels, einer großen globalen Bedrohung. Hunderttausende von ukrainischen Kriegsflüchtlingen überqueren jeden Tag die polnische Grenze. Sie werden mit einer riesigen Welle der Solidarität und Hilfe empfangen; sowohl von der Öffentlichkeit als auch von den polnischen Behörden, die zuvor so zögerlich waren, die Opfer anderer humanitärer Krisen aufzunehmen. Die Menschen in Polen sind zu Recht stolz auf ihre Gastfreundschaft – und nur wenige fragen, warum sie so selektiv ist und warum Europa und seine Regierungen mit zweierlei Maß messen, wenn es um Menschen geht, die vor dem Krieg fliehen. Einmal mehr irren viele Geflüchtete in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze umher; einmal mehr werden sie gequält, nach Belarus zurückgeschoben, sterben. Die Verfolgung der Aktivist:innen, die ihnen beistehen, wird immer schärfer, und das Verhalten polnischer Grenzsoldaten – dieselben, die ukrainische Kinder mit Zärtlichkeit und Mitgefühl über die Grenze tragen – wird immer brutaler. Der Unterschied in der Behandlung dieser beiden unterschiedlichen Gruppen von Kriegsflüchtlingen legt brutal offen, was wir zu verbergen versuchen: unseren europäischen Rassismus.
Die Menschen und die Ereignisse, von denen wir erzählen, sind nicht vom Pathos des Heldentums und Patriotismus begleitet. Der grundlegende Unterschied zwischen den Flüchtlingen in unserer Geschichte und denen, die heute die Grenzen der Ukraine überqueren, ist einfach: die Farbe ihrer Haut. Sie alle wurden vor eine Entscheidung gestellt, auf die keiner von ihnen vorbereitet war, aber die sie treffen mussten. Die Protagonist:innen der anderen Handlungsstränge unseres Films stehen auch vor einer solchen Entscheidung. Die verschiedenen Blickwinkel kommen zusammen, um ein möglichst vollständiges Bild zu schaffen. Ich denke, dass sich in ihrer Geschichte, wie in einem Wassertropfen, unsere europäische Dualität widerspiegelt – die Dualität, an die ich dachte, als ich vor 30 Jahren meinem Film den Doppeltitel „Europa, Europa“ gab. Das Kino ist nicht völlig machtlos – es kann die Wahrheit über die Welt und das menschliche Schicksal vielstimmig und aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Es kann schwierige menschliche Entscheidungen, Hilflosigkeit und die Unsichtbarkeit mancher Wesen beleuchten und sie aus dem Schatten holen. Es kann Fragen aufwerfen, auf die wir die Antworten nicht kennen; aber indem wir sie stellen, können wir der Welt ein wenig mehr Sinn geben.
Politik und Politiker bestimmen unser Leben, aber was mich am meisten interessiert, ist, wie sich ihr Handeln, ihre Entscheidungen und ihre unterlassenen Handlungen in den Leben gewöhnlicher Menschen und den Entscheidungen, die sie treffen müssen, einzeichnen. Aus diesem Grund haben wir drei sehr unterschiedliche Perspektiven eingenommen, um diese Geschichte zu erzählen: Die einer syrischen Flüchtlingsfamilie, die eines jungen Grenzbeamten und die einer Aktivistin wider Willen – einer fünfzigjährigen Frau, die nicht anders kann, als auf die Schreie derer zu reagieren, die in Not sind. Das Drehbuch von „Green Border“ führt diese verschiedenen Schicksale und Perspektiven zusammen, verwebt und verbindet sie miteinander. Die Geschichte wird in einem quasi-dokumentarischen Stil erzählt, mit Großaufnahmen und einer schnell bewegten Kamera, die den Figuren oft dicht auf den Fersen ist.
Aber in dem Moment, in dem die Kamera anhält, eskaliert der Schrecken, verstärkt durch das Licht, und verwandelt den Wald in ein fast schauriges Labyrinth wie aus den dunklen Märchen der Gebrüder Grimm – Hänsel und Gretel, die sich in der Leere des Waldes verlieren; die Klänge der Natur, die durch die Geräusche bedrohlicher Grenzpatrouillen/Menschenjäger unterbrochen werden; eine Atmosphäre des Schreckens. Die Realität der Migranten, die in einer immer feindlicheren Umgebung gefangen sind, nimmt archetypische, sinnliche und mystische Merkmale an. Der veristische, quasidokumentarische Realismus trifft auf Symbolismus und verbindet sich mit ihm. Die Erzählung des Films verwebt einige Handlungsstränge, unterschneidet sie mit verschiedenen Perspektiven und trennt sie dann strategisch voneinander, um sie dann erneut zu verknüpfen. Wir haben versucht, sehr spezifisch zu sein, den Kontext und bestimmte Situationen in einer sehr präzisen, veristischen Weise zu erfassen und gleichzeitig einer allgemeineren, globaleren und relevanten Wahrheit über die heutige Welt und ihre Herausforderungen Ausdruck zu geben. Die Charaktere sollten lebendig und wirklich sein, ihre Reise emotional erfüllend. Wir wollten ihnen nahe sein, ihnen folgen, uns um sie kümmern und uns um sie sorgen.
Foto:
Agnieszka Holland
©Deutschlandfunkkultur
Info:
Besetzung
Jalal Altawil. Bashir
Maja Ostaszewska. Julia
Behi Djanati Ataï. Leila
Mohamad Al Rashi. Grandpa
Dalia Naous. Amina
Tomasz Włosok Jan
Taim Ajjan. Nur
Talia Ajjan. . Ghalia
Monika Frajczyk. Marta
Jasmona Zuku
Aboubakr Bensaihm. Ahmad
Malwina Buss. Kasia
Marta Stalmierska. Ula
Ärztin im Krankenhaus
Maciek
Afrikanische Frau
Bogdans Frau
Stab
Regie Agnieszka Holland
Mitarbeit Regie. Kamila Tarabura und Katarzyna Warzecha
Drehbuch Maciej Pisuk, Gabriela Łazarkiewicz-Sieczko, Agnieszka Holland
Abdruck aus dem Presseheft