cillianInternationale Filmfestspiele Berlin vom 15. bis 25. Februar 2024, BERLINALE, Wettbewerb Teil 2

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Mit den aufmerksamen und empathischen Augen von Bill Furlong (Cillian Murphy, der seit seiner Darstellung als Oppenheimer gesetzt ist, gerade dafür einen Golden Globe bekam und oscarnominiert ist) sehen wir seine Welt in New Ross, Irland 1985, was man für ein Nachkriegsirland hält, so anachronistisch geht es dort zu. Der Kohlehändler mit vielen Töchtern schaut ernst und traurig und immer wieder kullern ihm unvermutet Tränen über das Gesicht und immer wieder muß man an sich halten, nicht mitzuweinen über das menschliche Elend, das er sieht. Man muß gar nicht an die großen irischen Hungerkatastrophen denken, der Alltag tut es auch, denn es herrscht nicht nur Armut, bittere Armut, sondern auch eine ganz spezielle institutionelle Form der Unterdrückung und Ausbeutung.

Doch bevor wir Näheres wissen wollen, zeigt sich schnell, daß dieser Film nur scheinbar ein historischer ist. Dieser Film ist die Aufforderung an die Zuschauer mit den Augen von Bill Furlong die eigene Welt zu betrachten. Mit Mitgefühl, wie gesagt. Doch das ist nicht alles. Denn das Entscheidende kommt danach. Was fängt man mit seiner Erkenntnis und Einsicht einer unbarmherzigen Welt an, mit dem Zuschauen und zur Kenntnisnehmen von Ungerechtigkeit, Verbrechen, Amtsmißbrauch etc.? Handeln!, ist die Antwort.

So handeln, wie es Bill Furlong im Film tut. Und sich mit allen anlegen wird, damit die festgezurrten Verhältnisse gelockert oder sogar beseitigt werden.

Der Clou des Films ist der Schluß. Während sich die Zuschauerin noch fragt, was jetzt passieren wird, als der Kohlehändler die schwangere, vom örtlichen Kloster gefangengehaltene und von den Schwestern mißhandelte junge Frau zum zweiten Mal im Kohlenkeller vorfindet. Da entführt‘ er sie, trägt die kraftlose Hilflose am Ende Huckepack in sein Heim, wo ihm doch seine Frau ausdrücklich nahegelegt hatte, sich aus allem herauszuhalten, wie es die anderen Bewohner, die es gut mit Bill meinen, auch tun: Er soll sich ja nicht mit dem Kloster anlegen, sprich mit den Schwestern. Und wenn wir hier vom Kloster sprechen, ist dieses gleichzeitig das Gesicht der Katholischen Kirche Irlands in diesen Zeiten.

Der Film beginnt leise. Da ist im Schnee ein Junge, der Holz sammelt. Bill begegnet ihm, befragt ihn nach seiner Situation, doch der Junge murmelt immer nur, es sei alles in Ordnung. Glauben tut es ihm keiner, aber was kann Bill tun? Er steckt ihm ein paar Groschen zu, über die sich später seine Frau mokieren wird. Die ist eigentlich eine gute Seele, aber sie will mit niemandem Streit, vor allem nicht mit der einzigen wirklichen Instanz der Gegend: dem örtlichen Frauenkloster, das alles in einem ist, Erziehungsanstalt, Schule für die Bevölkerung, angebliche Ausbildung für junge, erst recht schwangere Mädchen. Ein Euphemismus sondergleichen, denn in Wahrheit werden die jungen Mädchen wie Sklavinnen gehalten, müssen schuften und gehorchen und schnell ist eine in den Fokus strenger, gemeiner, haßerfüllter Schwestern geraten, so wie Sarah, die Bill, als er Kohlen bringt, anfleht, sie zu befreien und einfach am Fluß auszusetzen.

Doch er ist noch nicht soweit. Und das wäre für die Zuschauerin auch schade. Denn jetzt kommt eine der subtilsten, fast satirischen Szenen. Aber was tut er, als er Sarah im verschlossenen Kohlenkeller blutig und mit zerfetzten Kleidern vorfindet, ist? Er geht mit ihr zum Klostereingang und verlangt Auskunft, weshalb er sie in diesem elenden Zustand vorfindet. Nein, das traut er sich nicht. Das ist aber auch nicht nötig. Denn als er mit der Geschundenen erscheint, klingeln alle Alarmglocken bei der Oberin. Das arme Mädchen, sie muß sofort ins Bad, soll Essen bekommen und sich ausruhen, an diesem Tag nicht arbeiten. Im Zimmer der Oberin bekommt sie Tee gereicht und Kuchen. Und auf einmal willdie Oberin die Rechnung von Bill, die er schon anmahnte, sofort bezahlen. Ja, gibt ihm noch einen Brief für seine Frau mit Geld mit. Sie weiß warum. Bill auch. Aber noch schweigt er. Sein Gesicht sagt alles, aber er nimmt das Bestechungsgeld und geht nach Hause.

Wir haben im Gespräch mitbekommen, daß Bill der Oberin mehr als bekannt ist. Wir vermuten, daß seine früh verstorbene Mutter auch so eine schwangere hilflose Frau war, die ihn gebar und daß das Kloster sich um ihn ‚kümmerte‘. Man muß nicht alles genau wissen in diesem Film, denn wie oben ausgeführt, geht es gar nicht um Bill alleine, sondern um unsere Reaktionen auf Unrecht, Gemeinheit, höhere Instanzen wie damals die Kirche, heute der Staat, aber die Obrigkeit ist auch nicht mehr das, was sie mal war, heute haben die öffentliche Kontrolle, das Fertigmachen von Menschen soziale Medien längst übernommen, was nicht ablenken soll, daß es im sozialen Bereich mit einem ungerechten Lohnsystem und unzureichender Bildung für Kinder sogenannter bildungsfernen Schichten staatlich und gesellschftliche genug zu tun gäbe. Packen wir’s an.

PS. Unbedingt ist das Ritual zu erwähnen, wenn der völlig verdreckte Kohlenhändler, der erst die Kohle aus dem Abbaugebiet herausschlägt, sie in Säcke verfrachtet, die er dann ausfährt, nach Hause kommt und an einem kleinen Waschbecken seine Hände mit der Bürste bearbeitet, bis das Wasser schwarz und er relativ weiß ist.
Und man sollte auch wissen, daß dieser Film dem Roman von Claire Keegan folgt, das in Irland Furore machte.

Foto:
©Verleih

Info:
Irland, Belgien ∙ 96' ∙ Englisch E 1985, New Ross, Irland.
Stab
Regie. Tim Mielants
Buch.  Enda Walsh, nach dem gleichnamigen Roman von Claire Keegan
Kamera. Frank Van den Eeden

Besetzung
Cillian Murphy (Bill Furlong)
Eileen Walsh (Eileen Furlong)
Michelle Fairley (Mrs. Wilson)
Emily Watson (Schwester Mary)
Clare Dunne (Schwester Carmel)
Helen Behan (Mrs. Kehoe)