hors tu epmInternationale Filmfestspiele Berlin vom 15. bis 25. Februar 2024, BERLINALE, Wettbewerb Teil 6

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Das ist ein Film, dessen Anfang den Zuschauer total täuscht. Denn er beginnt mit traumhaften Landschaften und alten Häusern, erklärt in aller Ruhe was dies und das sei, läßt uns verträumte Natur atmen und man denkt eher an einen Dokumentarfilm über das Leben auf dem Lande in früheren Zeiten. Doch die Ruhe, die über allem liegt und die Abwesenheit von Menschen in den Bildern von Wäldern, Gärten und Häusern ist den Coronajahren geschuldet, weshalb die beiden Brüder, der schmale, ordnungsliebende Etienne (Micha Lescot), Filmregisseur, und der kräftige Paul (Vincent Macaigne), Musikjournalist, sich in das verwaiste Elternhaus auf dem Lande zurückgezogen haben, mit den jeweils neuen Gespielinnen.

Bei Paul bekommen wir bald mit und so endet der Film auch, daß er eine Tochter hat, die die Zeit des Lockdowns bei seiner ehemaligen Frau verbringt. Meine Güte, was ist das für ein elitäres, hochintellektuelles und gleichzeitig Rivalitätsgequatsche zwischen den beiden Brüdern! Ein Film, der die Tradition des französischen Salonstücks fortsetzt.

Es lohnt kaum, die die einzelnen Gesprächsfäden zu verfolgen, die alle zum Ausdruck bringen, daß hier Geschwisterrivalität über Worte ausgetragen wird, natürlich auch über Gesten und Empfindsamkeiten. So ist es die Übung von Paul, immer dann über den gerade vom putzsüchtigen Etienne feucht gewischten Boden zu schreiten, wenn dieser noch nicht getrocknet ist und Etienne gleich noch mal wischen muß.

Aber das sind Äußerlichkeiten, denn im Kern geht es um die Auseinandersetzung beider mit ihren Gefühlen als Kind im Haus der Eltern und auch mit ihrer damaligen Beziehung als Brüder. Zwei Themen bestimmen den Film und seine Protagonisten: die Einschränkung, ja Isolierung durch die Folgen des Coronalockdowns und das Zurückgeworfensein im Haus der Eltern auf die Kindheit und Jugend sowie die Trauer, die latent jetzt das Leben der Brüder im Haus der Eltern bestimmt, was sie nicht thematisieren, was aber der geheime Lehrplan des Films ist. 

Doch der Hintergrund ist erst einmal ein anderer. Wie der Regisseur Olivier Assayas äußerte, iliegt seine eigene Biographie dem Film zugrunde, was sich darauf bezieht, daß er zu Zeiten des ersten Corona Lockdowns in dem Haus seiner Kindheit weilte und dort zwangsweise sich mit seiner eigenen Kindheit und Jugend und den Erinnerungen beschäftigte. Sein Bruder war nicht anwesend, aber in der Erinnerung im Raum, weshalb im Brüderpaar  die echten Personen literarisch eingebracht. sind.  Das Entscheidende ist auch, daß eine Zeit wie Corona alles auf der einen Seite ausschaltet, die Aktivität der Gegenwart, und stattdessen die Erinnerungen und Reflexionen des eigenen Lebens im Elternhaus im Vordergrund stehen.

Paul wird am Schluß, als seine Tochter ihm von seiner Ex-Frau gebracht wird, seiner Tochter von seinem Elternhaus erzählen und auch davon, daß dies wie ein Gespensterhaus sei, denn es ist ja nicht sein Haus oder das seines Bruders, sondern das der Eltern, die tot sind und gewissermaßen Gespenster sind, mit denen er sich nun in ihrem Haus auseinandersetzt, wobei das grundlegende Gefühl die Trauer ist, die der Regisseur erst jetzt richtig spürte und sie seinen beiden Helden unterschiebt, dessen einer das alter ego des Regisseurs ist.

Die Pandemie allerdings ist eigentlich nur offiziell das Mitthema, eher wird die Corona-Isolation benutzt, um die beiden Brüder hier festzuhalten und sie zu zwingen, sich mit ihrem heutigen Leben auf der Grundlage des Großwerdens im Elternhaus und ihrer Beziehung als Brüder auseinanderzusetzen.

Allerdings haben die beiden Schauspieler des Micha, der dem Regisseur nachempfunden ist, und des Vincent, seines Bruders, das Drehbuch durch ihre Persönlichkeiten sehr verändert. Es geht jetzt nicht mehr um die Assayas, sondern wirklich um die beiden Brüder im Film. 

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Info:
Frankreich 2024
Französisch, Untertitel: Englisch, Deutsch
105'Farbe


Stab
Regie.  Olivier Assayas
Buch Olivier Assayas
Kamera Eric Gautier

Besetzung
• Vincent Macaigne (Paul) der Dicke mit Kind
• Micha Lescot (Etienne) der schmale
• Nine D’Urso (Morgane)
• Nora Hamzawi (Carole)
• Maud Wyler (Flavia)
• Dominique Reymond (Psychanalytikerin)
• Magdalena Lafont (Britt)