radiSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. März 2024, Teil 8

Redaktion

Madrid (Weltexpresso) - Als Filmemacher war ich nach zu vielen Projekten, die mir innerlich nicht entsprachen, ausgebrannt. Und als Vater... mein einziges Kind wurde zwei Monate zu früh geboren, und wir hatten große Probleme. Also haben wir unser Leben in New York hinter uns gelassen und zogen in ein abgeschiedenes Haus am See - in Guatemala, nur erreichbar via Boot oder Bergpfaden.

In den folgenden Jahren hatte ich Zeit zum Ausruhen und Schreiben und entdeckte aufs Neue meine Freude am Filmemachen. Doch die Herausforderungen bezüglich meines Sohnes gingen weiter. Bei unseren Versuchen, ihm zu helfen, waren wir bald sehr frustriert über das unflexible Einheitskonzept der modernen Pädagogik. Ich wusste, dass mein Sohn aufgeweckt und wissbegierig ist. Doch in der Schule und bei Ärzten ging es immer nur um seine Grenzen, darum, dass er nicht ins übliche Schema passte.

Dann zeigte mir Produzent Ben Odell den Artikel aus dem Magazin Wired über die Geschichte von Sergio Juárez Correa. Anfangs war ich skeptisch angesichts der schier unglaublichen Resultate - bis Ben mir einige Details schilderte, auf die er während seiner ausführlichen Recherche gestoßen war. Wir führten lange Gespräche darüber, wie wir diese Geschichte anpacken könnten. Von Anfang an waren wir uns darüber einig, dass wir sie in einer realistischen Tonart und naturalistischen, gleichwohl visuell stimulierenden Ästhetik darstellen wollten. Besonders ein Detail machte mich hellhörig: „Nachdem er Jahr um Jahr daran gescheitert war, seine Schüler voranzubringen, erlitt Sergio, jener Lehrer im Zentrum der Geschichte, einen Nervenzusammenbruch. In seiner Verzweiflung, einen Ausweg zu finden, stolperte er über einen „Ted Talk“ im Internet, in dem eine neue Art kindgerechten Lernens vorgestellt wurde. Er entschied sich, die Methode ohne jegliche Erfahrung oder Einweisung anzuwenden.“

Genau wie ich entschied er sich, den Resetknopf zu drücken, für einen Neuanfang, um seiner wahren Leidenschaft und Bestimmung zu folgen. Die Methoden, die er anwandte, dass er ohne hierarchischen Schutzschild die Kinder entscheiden ließ, was sie lernen wollen, fand ich so entwaffnend radikal, dass ich sie zum Herz des Films machen wollte.

So wie Sergio sich davon freimachte, als Autorität im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Schüler zu stehen, so erkannte auch ich, dass im Film das traditionelle Helden-Paradigma verworfen werden musste. Üblicherweise wird, wie etwa in den Schulfilmklassikern DER CLUB DER TOTEN DICHTER und STAND AND DELIVER, der Lehrer als treibende Kraft ins Zentrum gestellt. Ich wollte das Muster des „Lehrers als Erlöser“ brechen.

Das Hauptaugenmerk sollte auf den Kindern selbst liegen. Deshalb rücken die Lebensumstände von drei Schülern stärker in den Vordergrund. Der Eintritt des Zuschauers in die Welt von RADICAL geschieht nicht durch die Augen des Lehrers Sergio Juárez Correa, sondern durch die der Kinder im Kontext ihrer Lebensumstände. Der Kamerablick ist beobachtend, unsentimental, aber manchmal auch unfokussiert, wie abgelenkt. Wir entschieden uns dafür, den Zuschauer anfangs zu verwirren, ihn mit Informationen und Reizen zu überschwemmen, so dass er sich nicht orientieren kann, vielleicht sogar
innerlich abschaltet – so wie die Kinder von Matamoros, die innerlich abzuschalten gelernt haben angesichts der Flut der Zumutungen, die sie tagtäglich aushalten müssen.

Die Kamera befindet sich mit 1,20 m auf Augenhöhe der Kinder. Und bevor Sergio die Szene betritt, rangieren Erwachsene unter ferner liefen. Er gibt offen seine Unwissenheit, seine Neugier zu, er ist ebenfalls ein Schüler, ein Verbündeter, der ihnen auf ihrer Ebene entgegenkommt. In gewisser Weise verwandelt er sich in einen von ihnen. Und sobald er den Raum betritt und ihre Aufmerksamkeit geweckt hat, übernimmt er die Zügel, sie werden in seinen Bann gezogen, auch wir kleben an seinen Bewegungen.

Bei unserer ausgiebigen Vorab-Recherche entdeckten wir, vor welchen Herausforderungen Sergio und seine Schüler im Matamoros des Jahres 2011, jener außergewöhnlich brutalen Zeit, in der die Geschichte begann, standen: Eltern verließen erst dann das Haus, nachdem sie getestet hatten, ob die Luft rein war; Gewehrschüsse aus nächster Nähe und Leichen auf den Straßen waren allgegenwärtig. Und allgemein wird in ganz Mittelamerika auf das öffentliche Schulwesen nicht viel Wert gelegt. Der Schultag dauert nur vier bis fünf Stunden, die Mittel sind knapp, und die Schule gilt oft schlicht nicht als bedeutsame Stufe einer besseren Lebensentwicklung.

In seiner unglaublich vielfältigen Karriere als komödiantischer Schauspieler ist Eugenio gewohnt, sich in andere Charaktere zu verwandeln, zuallererst physisch (was auch als Arbeit von außen nach innen bezeichnet wird). Deshalb fand er meine Anweisung, NICHT Zuflucht in der Verwandlung in einen anderen Charakter zu suchen, ganz verletzlich zu sein – so wie Sergio mit seinen Schüler*innen – zunächst wirklich furchterregend. Dann sagte ich ihm, dass er nicht allein wäre und dass auch ich mich filmisch ohne Visier zeigen würde: in einem improvisierten, nicht am Storyboard vorgeplanten Dreh der Szenen im Klassenraum, weil ich das Kribbeln, die Aufregung und Energie im Bild spürbar machen wollte. Und er meinte: „OK. Ich vertraue dir, also los.“

In meinen schönsten Träumen hätte ich mir nicht auszumalen gehofft, wie hingebungsvoll und begabt die Kinder waren. Keines hatte viel Schauspielerfahrung, und viele hatten den Job angenommen, um ihre Familien zu unterstützen. Und da Eugenio in Mexiko überall bekannt ist, war es von größter Wichtigkeit, dass wir seine Teilnahme an dem Film so lange wie möglich geheim hielten – was uns auch gelang, bevor die Kinder in der ersten Szene im Film Sergio begegnen.

Ich werde nie ihren Blick vergessen als sie in den Raum kamen und plötzlich merkten, mit wem sie es zu tun haben würden: Eugenio Derbez! Und ich werde auch nicht ihre entzückten Schreie vergessen, ihre Tränen. Natürlich waren sie voller Ehrfurcht und unglaublich motiviert, an der Seite von Eugenio aufzutreten. Doch ein noch inspirierender Anblick war es für mich, ihm dabei zu zusehen, wie er sich mit ihnen anfreundete und sie anleitete. Sie zu beobachten, wie sie ihm eifrig folgten und dennoch ganz lebhaft und überzeugend wirkten, das war zweifellos die schönste berufliche Erfahrung, die ich jemals gemacht habe.

Um die emotionale Authentizität von Derbez’ Interaktion mit dem jugendlichen Ensemble zu bewahren, verwendete ich die Methode des legendären Filmemachers Robert Altman. So liefen gleichzeitig drei Kameras. Das Ensemble wusste nicht, welche direkt auf es gerichtet war, blieb also „natürlich“ bei jeder Einstellung, statt vor der Kamera zu „spielen“. Wie Sergios Schülern in Matamoros öffnete sich für viele unserer Kinder plötzlich ein völlig neues Universum, an das sie zuvor noch nicht mal zu denken gewagt hatten. An so vielen Orten der heutigen Welt bekommen Menschen, und besonders Kinder, keine einzige Chance zu beweisen, zu was sie fähig sind, was sie aus sich machen können. Mir gefällt der Gedanke, dass RADICAL – EINE KLASSE FÜR SICH zeigt, wie machtvoll, wie tiefgreifend die Auswir-
kungen sind, wenn man Menschen diese eine Chance gibt. Mir jedenfalls ist das bewusst geworden.

Foto:
©Verleih

Info:
Sergio.    Eugenio Derbez
Chucho.   Daniel Haddad 
Paloma.    Jennifer Trejo
Lupe.      Mía Fernanda Solis 
Nico.      Danilo Guardiola 
Palomas Vater.   Gilberto Barraza
Chepe  Victor Estrada

Stab 
Regie     Victor Estrada
Drehbuch.   Christopher Zalla, Joshua Davis


 Abdruck aus dem Presseheft