Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. April 2024, Teil 13
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – New York, Gegenwart: Julian Albans (Bryce Gheisar) hat seinen ersten Tag in seiner neuen Schule. Er ist von seiner alten Schule verwiesen worden, weil er dort einen anderen Jungen gemobbt hat. Er versucht in seiner neuen Schule nicht aufzufallen, will sich deshalb auch an keinen Aktivitäten beteiligen.
Nach einer längeren Heimfahrt, klingelt es plötzlich an der Tür, denn seine Großmutter (Helen Mirren) ist gerade aus Frankreich zu Besuch, da sie als Künstlerin am nächsten Tag eine Retrospektive ihrer Werke eröffnen soll. Sie unterhält sich mit Julian über seine Probleme und findet, dass es die falsche Reaktion sei, sich nicht bei Problemen einzumischen. Sie erzählt ihm die Geschichte ihrer eigenen Jugend, die sie so nicht einmal ihren Kindern erzählt hat.
Die Erzählung beginn 1942 in Frankreich. Das jüdische Mädchen Sara Blum (Ariella Glaser) lebt zusammen mit ihrem Vater (Ishai Golan), der Arzt ist, und ihrer Mutter Rose (Olivia Ross), einer Mathematiklehrerin, in einem kleinen Städtchen namens Aubervilliers aux Bois im Vichy-Frankreich. Da auch dort die deutschen Besatzer immer präsenter werden und auch der Antisemitismus unter der Bevölkerung zunimmt, möchte der Vater die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Doch die Mutter zögert noch.
Die 14jährige Sara geht in die örtliche Schule, zeichnet gern und hat ein Auge auf Vincent (Jem Matthews) geworfen, der sie und ihre Fähigkeiten aber als Jüdin abkanzelt. In Saras Klasse ist auch Julien Beaumier (Orlando Schwerdt), der nach einer Polio-Erkrankung körperlich behindert ist und von den anderen Schülern der Klasse gemieden wird. Auch Sara möchte nichts mit ihm zu tun haben.
Als deutsche Soldaten vorfahren und beginnen, Saras Schule nach jüdischen Kindern zu durchsuchen, versucht die Lehrerin und der katholische Pfarrer, den Kindern durch eine Hintertür zur Flucht zu verhelfen. Die Aktion wird allerdings von Vincent verraten. Nur Sara gelingt die Flucht, da Julien sie auf geheimen Wegen durch nur ihm bekannte Abwasserkanäle in einer Scheune in der Nähe seines Hauses unterbringt.
Die Beaumiers - Mutter Vivianne (Gillian Anderson) und Vater Jean Paul (Jo Stone-Fewings) - sind sofort bereit, sich dort um sie zu kümmern. Sie können sie aber nicht in ihrem Haus aufnehmen, da sie den Lafleurs (Miroslav Taborsky und Zuzana Hodkova), einem älteren Nachbarehepaar, nicht trauen.
Sara lebt dann mehr als ein Jahr in der Scheune, in der sie regelmäßig abends von Julien besucht wird, der ihr nicht nur die Schularbeiten mitbringt, sondern auch Stifte und einen Block besorgt, so dass sie weiterhin malen kann.
Im Laufe der Zeit wird die Scheune zu einem magischen Zufluchtsort, denn die beiden schaffen sich durch die Macht der Fantasie eine eigene Welt, in der sie in einem dort abgestellten Auto viele fremde Gegenden besuchen. Gleichzeitig kommen sich die Sara und Julien auch persönlich näher. Als Sara Julien von einem weißen Vogel erzählt, der sie regelmäßig auf dem Dach der Scheune besucht, schnitzt er ihr zum Geburtstag einen hölzernen Vogel, den Sara für den Rest ihres Lebens in Ehren halten wird.
Doch die Gefahr der Entdeckung ihres Verstecks ist immer gegenwärtig, denn Vincent und seine beiden Freunde Jerome (Jordan Cramond) und Henri (Yelisey Kazakevich) haben sich den Schwarzhemden – der örtlichen französischen Miliz - angeschlossen und verraten regelmäßig Aktionen der Résistance. Als dann Vincent bei Julien einen von Saras persönlichen Gegenständen findet, werden er und seine Freunde zu einer Bedrohung für Saras Sicherheit…
″White Bird″ basiert auf dem Jugendbuch White Bird (deutsch: White Bird – Wie ein Vogel) von Raquel J. Palacio, das 2019 erschienen ist. Inhaltlich kann man es als Fortsetzung des Jugendromans Wunder (2012) der gleichen Autorin und des Films ″Wunder″ (2017) sehen, denn auch dort hat Bryce Gheisar Julian Albans gespielt. Das ist der Junge der in ″Wunder″ Auggie Pulmann, den Jungen mit dem Treacher Collins Syndrom, drangsaliert hat und deshalb von der Schule verwiesen wurde. Im Film wird auch kurz darauf hingewiesen, als Julian sich eine Fotografie von Auggie (Jacob Tremblay) ansieht.
Im hier besprochenen Film wird Julian nun eine wichtige Lektion erteilt, indem seine Großmutter ihm von von einem anderen Julien berichtet, dessen Namen er bekommen hat. Mark Bomback hat nach Raquel J. Palacios Jugendbuch das Drehbuch geschrieben. Der deutsch-schweizerische Regisseur Marc Forster hat auf dem Regiestuhl Platz genommen.
Die Dreharbeiten zu ″White Bird″ fanden bereits in den ersten Monaten 2021 in Tschechien statt, unter anderem in der mittelböhmischen Stadt Kutná Hora. Weitere Drehorte waren die Stadt Liberec in Nordböhmen und die tschechische Hauptstadt Prag. Als Kameramann fungierte der Österreicher Matthias Königswieser, der bereits vorher schon mit Marc Forster zusammen gearbeitet hat.
Auch wenn Helen Mirren als Großmutter Sara ganz sicher die bekannteste Darstellerin des Film ist. ist ihre Rolle doch recht klein, denn sie tritt nur in den kurzen Einschüben im heutigen New York auf, während der Großteil des Films zwischen 1942 und 1944 spielt. Ariella Glaser und Orlando Schwerdt spielen ihre Rollen als junge Sara und Julien überzeugend. Vor allem Orlando Schwerdt als Julien macht deutlich, dass er Sara schon vorher bewundert hat und dass er es für vollkommen selbstverständlich hält, dass er dem jungen Mädchen ohne Nachzudenken hilft.
Das gilt auch für Juliens Eltern, in kleineren Rollen gespielt von Gillian Anderson als Vivienne und Jo Stone-Fewings als Jean-Paul Beaumier. Vor allem Gillian Andersons Vivienne nimmt Sara liebevoll auf und kümmert sich rührend um das Mädchen, indem sie ihr z.B. die Haare schneidet oder ihr von ihren eigenen Kleidern abgibt.
Als im Gedächtnis bleibende Rolle gibt es sonst eigentlich nur noch Jem Matthews als den gutaussehenden Vincent, ein Junge der schon vor dem Einmarsch der Deutschen sich als Schultyrann aufspielt und zusammen mit seinen Freunden Jerome (Jordan Cramond) und Henri (Yelisey Kazakevich) Julien regelmäßig quält und der später ermutigt und sogar dafür belohnt wird, wenn er Juden und Mitglieder des Widerstands an die Miliz oder die deutschen Truppen verrät.
Zwischen Sara und Vincent wird es dann später eine Sequenz geben, die dem Realismus des restlichen Films doch etwas entgegen steht und die möglicherweise als Traumsequenz gedeutet werden kann, oder aber, dass die Großmutter Julian hier nicht die ganze Wahrheit über ihr eigenes Tun sagen will.
Der Film erzählt sehr bewegend die Geschichte einer wunderbaren Rettung, von Liebe und Hass, vor allem aber von der Kraft der Menschlichkeit, die selbst in dunkelsten Zeiten noch mit einem Hoffnungsschimmer strahlt. Dabei schafft es der Regisseur sogar kleine Nebenrollen feinfühlig darzustellen, wie die Lehrerin, die sich entscheidet, die gefangenen jüdischen Kinder ihrer Schule zu begleiten. Da eigentlich alle Darsteller ihre Rollen glaubhaft spielen, wirkt der Film niemals kitschig, aber doch gefühlvoll.
Denn es geht in ″White Bird″ nicht nur um die Story von zwei Jugendlichen, die versuchen müssen, ihr Schicksal gemeinsam zu meistern, sondern ″White Bird″ ist ein Film, der das Gute im Menschen heraufbeschwört. Dadurch fügt Marc Forster dem Film einen deutlichen Aufruf zur Wachsamkeit gegenüber neuen faschistischen Tendenzen hinzu. Auch wenn die Romanverfilmung an einigen Stellen für einige Zuschauer kitschig wirken kann, bietet ″White Bird″ ein Mittel, das Problem der wiedererstarkten rechten Bewegungen für junge Menschen erlebenswert zu machen. Gleichzeitig schafft es der Film, auch für erwachsene Zuschauer nicht uninteressant zu sein.
Zusatz: Das Thema Rettung von jüdischen Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus wurde von Kurzem schon in dem britischen Film ″One Life″ mit Anthony Hopkins und Johnny Flynn angesprochen, der am 28.3.2024 in die deutschen Kinos kam und dort evtl. auch noch zu sehen sein wird. In diesem Drama geht es um die Rettung von 669 meist jüdischen Kindern aus Prag im Frühjahr 1939.
Foto 1: Orlando Schwerdt als Julien und Ariella Glaser als Sara © Leonine Studios
Foto 2: Helen Mirren als Grandmère und Bryce Gheisar als Julian © Leonine Studios
Foto 3: Ariella Glaser als Sara und Gillian Anderson als Vivienne © Leonine Studios
Foto 4: v.l.n.r. Jem Matthews als Vincent, Orlando Schwerdt als Julien, Jordan Cramond als Jerome und Yelisey Kazakevich als Henri © Leonine Studios
Info:
White Bird (USA 2024)
Originaltitel: White Bird
Genre: Drama, Historiendrama, Romanverfilmung
Filmlänge: ca. 120 Min.
Regie: Marc Forster
Drehbuch: Mark Bomback, basierend auf dem Roman ″White Bird″ (2019) von R.J. Palacio
Darsteller: Ariella Glaser, Orlando Schwerdt, Gillian Anderson, Jo Stone-Fewings, Helen Mirren, Bryce Gheisar, Jem Matthews, Jordan Cramond, Yelisey Kazakevich u.a.
Verleih: Leonine Studios
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 11.04.2024