brief1LICHTER Filmfest Frankfurt International: von Dienstag, 16. April bis Sonntag, 21. April, Teil 15

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Große Spannung, endlich mal wieder einen Film aus China sehen zu dürfen, die man früher wenigstens auf der BERLINALE zu Gesicht bekam, in letzter Zeit aber überhaupt nicht mehr. Dabei geht es einem nicht allein um Filmkunst, sondern um die Wahrnehmung der jeweiligen Gesellschaft, weil Film, auch wenn sie bestimmte Inhalte und Absichten haben, doch immer auch gesellschaftliche Verfaßtheiten so nebenbei miterzählen. Wie die Leute angezogen sind, wie sie wohnen, was sie essen…

Essen auf jeden Fall wird in diesem Film ausführlich gezeigt und wir erfahren nicht nur, wie die Gerichte heißen und aus was sie bestehen, sondern auch eine Menge über Obst etc. Das nimmt total ein, denn die Filme, in denen überhaupt nie gegessen werden, wie die allermeisten amerikanischen, haben dann doch etwas zu viel Abstraktion zum täglichen Leben, das ja durch Essen sinnlicher wird. Hier auf jeden Fall ist es die Mutter (Guo Keyu) , die den Ton, den angenehmen Ton der Familie angibt. Wir erfahren viel später die Vorgeschichte, daß nämlich der Ehemann (Zu Feng) seine Frau zur Abtreibung der zweiten Schwangerschaft getrieben hat, was das ganze Geschehen psychologisch fundiert.

Der Film beginnt mit den Folgen eines Konfliktes in einer Privatschule, weshalb der verwöhnte und führungsstarke Wei (Lin Muran) , einziger Sohn einer sehr gut betuchten chinesischen Familie einen Klassenkamerad mitbringt. Es ist Shuo (Sun Xilun) , ein hübscher, sehr kontrollierter, also zurückgenommener Junge mit den besten Noten, was man von Wei nicht sagen kann. Die Mutter ist angetan von dem Jungen, der gut erzogen erst einmal merken läßt, wie wenig Ahnung er von gehaltvollem Essen hat. Erst viel später erzählt er seine wirkliche Geschichte. Die Mutter ist früh gestorben und der Vater ein Trinker, der ihn regelmäßig schlägt. Die Wunden sind heftig, die er später zeigt.

Erst einmal wird bei diesem Familienessen klar, daß die Eltern sehr einverstanden sind mit der Freundschaft ihres Sohnes zu diesem Shuo. Was zwischen den beiden Jungen läuft, ist schwierig auszumachen. Wei ist spielsüchtig und Shuo deckt ihn vor seiner Mutter, indem er behauptet, er würde lernen. Aber immer wieder laufen sie einfach nebeneinander her. Wei spielt und Shuo lernt. Auf jeden Fall kommt es dazu, daß Shuo fast ein neues Familienmitglied wird. Doch merkt man an Kleinigkeiten, daß dies Sohn Wei dann doch nicht so recht ist. Der Vater, ein umsichtiger, richtig erwachsener Zellbiologe, der in seiner Profession sehr angesehen ist, wird nach und nach dann doch von dem Jungen sehr eingenommen, den er erst einmal als Fremden nicht so dicht in der Familie haben wollte. Die Mutter, das ergibt das Gespräch zwischen den Eltern, sieht im Jungen so etwas wie das verlorene, weil abgetriebene Kind und so ist die Beziehung zwischen Mutter und Shuo fast eine zärtliche, auf jeden Fall eine, wo der Knabe ihre Wünsche schon erfüllt, ehe sie sie richtig wahrnimmt. Er ist aufmerksam, hilft ihr beim Kochen, Einkaufen, wo immer es geht.

Wir haben die Charaktere der Familie, ihre Verhaltensweisen klar vor Augen. Aber wer ist Shuo? Das ist im Film hervorragend dargestellt. Eigentlich ist er in jeder Filmszene zu sehen, aber sein eigentliches Wesen bleibt über die freundliche zugewandte, gut erzogene zurückhaltende Art im Nebel. Er erleidet fast stoisch die Schläge des Vaters, deretwegen die Familie einmal mit ihm zur Notaufnahme fährt, er ist durchwegs fleißig, freundlich, hilfsbereit. So ein netter Junge. Nein, das ist nicht hinterfotzig gemeint, sondern soll ausdrücken, daß wir nur die Außenseite eines Knaben mitbekommen, wie er in der Welt wahrgenommen werden will. Aber wie er gleichzeitig auch ist, denn seine Zuneigung zur Mutter hat keinen falschen Zungenschlag.

Nur wenn Wei und Shuo alleine sind, finden so was wie Rivalenkämpfe statt. Inzwischen zeigt Wei eindeutige Symptome von Eifersucht, denn ihm wird unbewußt von den Eltern der fleißige Shuo immer wieder als Vorbild vorgehalten. Die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander. Erst, weil sein Vater gewalttätig ist und ihn die Familie schützen will, dann, weil der Vater im Suff stürzt und stirbt. Sie wollen Shuo adoptieren, teilen die Eltern beiden Jungen mit. Was dem einen eine Freude, ist dem anderen sein Leid. Auf jeden Fall benimmt sich Wei, der Shuo seine Schulnoten zu verdanken hat, gemein, schwärzt Shuo bei den Eltern an. Und dann ist er verschwunden. Das setzt eine Dynamik in Gang, die alle Freundlichkeiten der Familie Shuo gegenüber als halbherzig sehen lassen. Diese Familie, die am Anfang als feste Einheit erschien, hat ihre nicht besprochene Tragik, die unterschwelligen Gefühle nicht im Griff, sondern sind nun dem willkürlichen Leben ausgesetzt. Daß die Schlußszene die Familie erneut beim Essen zeigt, nun aber nur zu Dritt, die Ursprungsfamilie, ohne Shuo, ist auch die Wahrheit dieser Familie.

Foto:
©Verleih

Info:
 Regie und Drehbuch.    Lin Jianjie
mit Zu Feng, Guo Keyu, Sun Xilun, Lin Muran
Volksrepublik China / Frankreich / Dänemark / Katar 2024
Mandarin, Untertitel: Englisch

Lin Jianjie
Nach seinem Abschluss im Bachelorstudiengang Bioinformatik wandte sich Lin Jianjie dem Filmemachen zu und studierte an der Tisch School of the Arts der New York University. Seine Kurzfilme A Visit (2015) und Gu (2017) liefen erfolgreich auf internationalen Filmfestivals. Brief History of a Family ist sein Langfilmdebüt.