Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Mai 2024, Teil 11
Redaktion
Hollywood (Weltexpresso) – Todd Haynes‘ unmittelbare filmische Assoziationen lassen sich nicht leugnen: „Persona“ (1966) und andere Bergman-Filme, in denen Frauen miteinander konfrontiert werden. Ebenso Filme, in denen sich die Figuren in Schlüsselmomenten direkt an die Kamera wenden, wie z.B. in „Herbstsonate“ (1978) oder in verschiedenen Filmen von Godard. „Die direkte Ansprache, wenn unsere drei Hauptfiguren Spiegeln gegenüberstehen, wird zu einem roten Faden in MAY DECEMBER, erläutert Regisseur Todd Haynes.
Außerdem waren Filme über ältere Frauen und jüngere Männer relevant, wie „Die Reifeprüfung“ („The Graduate“, 1967), „Sunset Boulevard – Boulevard der Dämmerung“ („Sunset Boulevard“, 1950), „Sunday Bloody Sunday“ (1971) oder die traditionellere, umgekehrte Variante, wie in „Manhattan“ (1979) oder „Lolita“ (1962). Vor allem interessierten Haynes jene Filme, „bei denen ein stilistischer Minimalismus - wie in ‚Die Reifeprüfung‘ oder ‚Manhattan‘ - fast untrennbar mit dem Erfolg des Films verbunden ist.“
Aber auch die Wahl des Drehorts hatte Einfluss auf die Atmosphäre des Films. Das Drehbuch spielte ursprünglich in Camden, Maine, und aus praktischen, aber auch erzählerischen und ästhetischen Gründen entschied sich die Produktion für Savannah, Georgia, als Schauplatz für den Film MAY DECEMBER. Produktionsdesigner Sam Lisenco erinnert sich: „Todd und ich entdeckten Tybee Island auf der Karte und dachten sofort: Dort würde Gracie wahrscheinlich leben, nicht im Zentrum des historischen Savannahs.“ Und so fuhren sie im August 2022 dorthin und entdeckten, dass Savannah als Drehort noch besser war als erhofft. Tybee, eine Strandgemeinde etwa 30 Minuten außerhalb von Savannah, entpuppte sich als perfekter Drehort.
Für Todd Haynes „boten die Feuchtigkeit und das Licht des Sumpfes, das von dieser Region ausgeht, eine ganz besondere Bildsprache. Das milchige Licht sickert durch die Bilder hindurch und kann die Aufnahmen in Szene setzen.“ Nach Terminverschiebungen wurde die Produktion in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 zügig in Angriff genommen, wodurch eine Synergie entstand, die dem begrenzten Budget und einem engen Drehplan zugutekam.
Man könnte es eine zuweilen beißende Spannung nennen, die Marcelo Zervos‘ ungewöhnliche Verwendung von Musik in MAY DECEMBER widerspiegelt. Die Musik zieht sich wie ein roter Faden durch die Entstehung dieses Films. Todd Haynes erklärt: „Komponist Marcelo Zervos übernahm Musik von Michel Legrands Musik für den Film „Der Mittler“ („The Go-Between“) von 1971. Diese Musik hatte ich während der Vorproduktion zu MAY DECEMBER entdeckt.“ Zarvos verwendete schließlich die Legrand-Musik in Kombination mit seinen eigenen Kompositionen für das Arrangement der fertigen Filmmusik. „Wie bei vielen meiner Filme“, erläutert Todd Haynes „ist das Ergebnis eine Art Dialog zwischen den Themen und Erzählstrategien in MAY DECEMBER und denen anderer Filme, Regisseure und Filmepochen, auf die wir uns beziehen.“ Die Musik entfaltet auf diese Weise eine ganz andere Wirkung als bei traditionellen Melodramen, hat eine nachdenkliche Dringlichkeit, wie eine Warnung, dass etwas nicht stimmt oder dass die Ereignisse, die sich vor unseren Augen abspielen, ein unheilvolles Ende nehmen werden.
Dreigestirn
Regisseur Todd Haynes erinnert sich: „Natalie Portman schickte mir Samy Burchs außergewöhnliches Drehbuch 2020. Mich faszinierte die Art und Weise, wie es potenziell brisante Themen geduldig beobachtete und es damit möglich machte, die Figuren der Geschichte mit ungewöhnlicher Subtilität zu erforschen. Auch die Produzenten Jessica Elbaum und Will Ferrell von Gloria Sanchez Productions waren hingerissen von Samy Burchs Drehbuch: „Sie ist eine neue Stimme im Business und wir möchten Projekte von neuen und weiblichen Stimmen unterstützen und haben uns gefreut, dass sie mit uns zusammenarbeiten wollte.“ Die moralische und erzählerische Ambiguität der Story verführt den Zuschauer zu aktivem Beobachten und Hinterfragen. Christine Vachon von Killer Films erinnert sich: „Ich lese Drehbücher immer mit dem Gedanken im Hinterkopf: Wird das Todd gefallen? MAY DECEMBER hatte er gelesen und mich dann sofort angerufen. Sein erster Satz war: ‚Ich wette, Julianne (Moore) wird die andere Rolle spielen.‘“
Das Projekt bot Haynes die lang ersehnte Gelegenheit, endlich mit Natalie Portman zusammenzuarbeiten, deren Produktionsfirma Mountain A ebenfalls an dem Projekt beteiligt war: „Ich sprach mit Natalie über die Figur der Elizabeth Berry. Welche Annahmen und Projektionen brächten die Menschen Natalie Portman entgegen, die selbst Schauspielerin ist und eine Schauspielerin spielt?“ Er ergänzt: „Und wir sprachen natürlich darüber, wer die beste Wahl für die Rolle der Gracie Atherton-Yoo sein könnte – es dauerte nicht sehr lange, bis ich an Julianne Moore für diese Rolle dachte. Sie und Natalie hatten noch nie in einem Film zusammengearbeitet. Moore war sofort Feuer und Flamme, als sie das Drehbuch las. Hinzu kam der Bonus, mit einer anderen Oscar-Preisträgerin zusammenzuarbeiten, die sie seit langem verehrt hatte. Moore ergänzt: „Natalie ist einfach außergewöhnlich. Ich kannte sie privat ein wenig und habe mich immer sehr gerne mit ihr unterhalten. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, wie wunderbar sie sein würde - ein Traum als Schauspieler und als Mensch.“ Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Ich habe Juliannes Zusammenarbeit mit Todd schon lange bewundert“, sagt Portman. „Ihre gemeinsamen Filme sind mir immer in Erinnerung geblieben. Die Spiegelszene in MAY DECEMBER, in der sie mir beibringt, wie sie sich schminkt, ist ein absolutes Highlight meiner Karriere. Todds Perspektive war so genial, und natürlich ist Julianne perfekt!“ Sich in eine Figur zu vertiefen, die so vertraut und doch so fremd ist, faszinierte Portman: „Ich habe noch nie eine Schauspielerin gespielt, obwohl ich ‚Hintergrundwissen‘ habe, weil ich selbst eine bin“, schmunzelt Portman, die sich davon angezogen fühlte, „eine Schauspielerin zu spielen, die eine Frau porträtiert, welche öffentlich - und unerbittlich - geächtet wurde.“ „Menschen, die Dinge tun, die von der Gesellschaft als schlecht angesehen werden, sind für Schauspieler oft interessant. Denn die Kunst ist ein Ort, an dem man versucht zu verstehen, ohne zu urteilen“, findet Portman. „Urteile sind für das Gesetz oder die Gesellschaft, aber in der Kunst geht es darum, neugierig zu sein und einfach in einen Geist hineinzuschauen.“ Sie schwärmt von Todd Haynes: „Ich habe ihn aus der Ferne bewundert und dann aus der Nähe kennenlernt, und er übertraf meine kühnsten Vorstellungen! Wie oft passiert einem das? Er ist so gut vorbereitet, so spezifisch, weiß exakt, was er will, und gibt genaues, aber sparsames Feedback.“
So erfahren sie auch ist, fand Moore auch etwas Neues in der Rolle der Gracie: „Das Drehbuch von Samy Burch war bereits bei der ersten Lektüre wunderbar. Wenn man es zu spielen begann, traten noch mehr Gefühl, Menschlichkeit und Komplexität zutage“, sagt Moore. „Es wurde immer interessanter, tiefer und lebendiger und gab mir die Möglichkeit, eine öffentliche Version von Gracie zu zeigen, wie sie in der Welt von anderen gesehen wird, aber eben auch eine private“. Das Öffentliche und das Private erleben wir ja auch in unserem eigenen Leben. Aber im Film hat man nicht immer die Möglichkeit beide Seiten einer Figur zu zeigen.“ Moore verstand es meisterhaft, mit den moralisch fragwürdigen Aspekten ihrer Figur umzugehen, weil sie sich weigerte, Gracie entweder als Heldin oder als Schurkin darzustellen. „Wenn man an einer Figur arbeitet, dann betrachtet man sie nicht mit Sympathie, sondern Empathie, weil man versucht, sich in die Lage dieser Person zu versetzen“, sagt Moore. „Wie fühlt es sich an, diese Entscheidung getroffen zu haben? Was bedeutet es, dieses Leben zu leben? Wie schafft man es, an dieses Leben zu glauben, auch wenn man etwas getan hat, das aus Sicht der Gesellschaft als Tabubruch angesehen wird? Das ist die interessante Reise, auf die man sich als Schauspieler begibt.“
Ihre lange Zusammenarbeit mit Todd Haynes hat Julianne Moore dabei geholfen: „Todd ist ein so außergewöhnlicher, begabter Filmemacher, dass die Tatsache, dass mein kreatives Leben überhaupt mit seinem kollidiert ist, ein Wunder war!“, schwärmt Moore. „Er weiß, was er mit seinem Film sagen will, wer die Figuren sind, welche Einstellungen er zeigen und wie er schneiden will.“
Nachdem Natalie Portman und Julianne Moore zugesagt hatten, musste Casting-Direktorin Laura Rosenthal einen Darsteller für Gracies Ehemann Joe finden - eine echte Herausforderung. „Jede Besetzung ist wie ein Sternenbild, und dieses erschien mir wie ein Dreigestirn, ein dreizackiger Stern – so jedenfalls habe ich das gesehen. Aber alle drei Spitzen mussten scharf sein, und zwei waren bereits mit absoluten Stars besetzt“, so Rosenthal, die mit Todd Haynes bereits seit „Velvet Goldmine“ (1998) zusammenarbeitet. „Die dritte musste ich erst finden: einen unbekannten, etwa 36 Jahre alten Schauspieler koreanisch-amerikanischer Abstammung, der sowohl über eine enorme Bildschirmpräsenz verfügt als auch genug Selbstvertrauen hat, damit diese Dreierkonstellation funktioniert.“ Sie fand ihren aufstrebenden Star in dem 32jährigen Charles Melton, der bereits für seine Rolle als Reggie Mantle in der Serie „Riverdale“ bekannt war.
Foto:
©Verleih
Info:
Regie Todd Haynes
Drehbuch. Samy Burch
mit
Natalie Portman, Julianne Moore, Charles Melton, Cory Michael Smith,
Elizabeth Yu, Gabriel Chung, Piper Curda, D.W Moffett, Lawrence Arancio
Abdruck aus dem Presseheft