f6Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 11. Juli 2024, Teil 3

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Herr Stadlober, waren Sie überrascht von der Offerte, Joseph Goebbels spielen zu können?


Ja, sehr! Joachim A. Lang hat mich angerufen und mir von einem neuen Filmprojekt über den Nationalsozialismus erzählt, ohne zunächst konkret von der Rolle zu sprechen, die er für mich vorgesehen hat. Wir kannten uns bereits von der Arbeit an MACKIE MESSER – BRECHTS DREIGROSCHENFILM, haben dort auch schon viel über politische Themen gesprochen und ich dachte: Ja, vielleicht macht er jetzt etwas über Karl Liebknecht oder Ernst Thälmann oder eine historische Person, die ich noch gar nicht kenne. Dann aber sprachen wir über die Propagandamaschine im Dritten Reich und schließlich über Langs Wunsch, dass ich Joseph Goebbels spiele.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe heftig geschluckt, sehr tief ausgeatmet und, glaube ich, sogar etwas laut gelacht.

Weil Sie sich nie und nimmer in dieser Rolle gesehen haben?

Es war tatsächlich instinktive Abwehr, weil ich mich privat schon über viele Jahre hinweg mit Geschichte und Politik dieser Zeit beschäftige und natürlich auch mit dem Menschen Goebbels, vor dem ich tiefe Abscheu empfinde. Es ging bei besagtem Anruf nicht um ein schnelles Ja oder Nein, ich habe sehr lange überlegt und war mir dann ziemlich sicher, dass ich die Rolle nicht annehmen will. Wieder folgten Gespräche mit dem Regisseur, er erklärte mir seine Beweggründe für FÜHRER UND VERFÜHRER, dass man, seiner Meinung nach, die Komplexität dieses Teils deutscher Geschichte und die Monstrosität der Manipulation von Menschen nur über einen fiktionalen Film zu fassen bekommen könnte. Ich habe wieder neu darüber nachgedacht und das Projekt begann mich zu reizen. Letztlich auch, weil wir alle wohl keine großen Exkurse darüber brauchen, dass noch in heutiger Zeit viele Methoden von damals weiterentwickelt und offen genutzt werden. Weiterhin fallen Menschen auf Hetze und falsche Versprechungen herein. Ich begann also, mich sukzessive und in kleinen Dosen mit der Herausforderung, Joseph Goebbels zu interpretieren, zu beschäftigen. Kleine Dosen deshalb, weil man keinesfalls jeden Abend vor dem Schlafengehen die Goebbels-Tagebücher lesen kann. Ich jedenfalls hätte es nicht ausgehalten, ohne zynisch zu werden.

Es war also zunächst der echte Goebbels, der sie umgetrieben hat. An Methoden, sich ihm als Darsteller handwerklich zu nähern, war da noch nicht zu denken?

Nein, denn man braucht ja als Schauspieler für gewöhnlich eine Art Grundfaszination für die Figur. Für einen fiktiven Serienmörder kann ich vielleicht Interesse für das Genre des Horrorfilms zeigen und damit über die Grenzen des Erträglichen gehen. In der Wirklichkeit, also auch mit historischen Personen, ist es schwieriger. Ich habe mich zum Beispiel gefragt, ob ich die psychologischen Abgründe des Menschen Goebbels überhaupt verstehen will. Brauche ich es, um ihn zu interpretieren?

Weshalb haben Sie die Rolle dann doch angenommen?

Dazu muss ich kurz ausholen. Ich habe im Theater Hebbel am Ufer in Berlin ein Stück über Franz Jung gemacht, Erfinder des Berliner Dada und gleichzeitig Berufsrevolutionär, Börsenmakler und Anarchokommunist. Ein echtes Enfant terrible, ein Wahnsinniger, der auch schon mal ein Schiff gestohlen hat, um Lenin nach St. Petersburg zu bringen. Eigentlich ein unglaublicher Mensch mit extremen Abgründen. Auch bei ihm wollte ich in der Vorbereitung auf die Rolle irgendwann nicht mehr an seine Seele ran, dafür wollte ich aber umso mehr wissen, welche Bedeutung Jung für die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat. Zusammen mit Dadaist Wolfgang Krause-Zwieback haben wir einen Weg gefunden, um diesen Menschen nicht auf esoterische Art verstehen zu wollen, sondern ein Anschauungsobjekt dafür zu erschaffen, um Mechanismen der Faszination für Jung auf einer Bühne darzustellen. An diese Arbeit musste ich denken, als es um Goebbels ging. Ich habe überlegt, ob ich diese Herangehensweise möglicherweise auch für die Kamera benutzen kann. Kann ich also jemand interpretieren, ohne ihn psychologisch durchdringen zu wollen. Da es bei Franz Jung funktioniert hat, war mein Ansporn und, ja, mein Ehrgeiz, es auch bei Joseph Goebbels zu probieren. Denn ich glaube, genau daraus kann politischer und ästhetischer Erkenntnisgewinn resultieren. Es kann dabei helfen, einen Menschen zu entschlüsseln, etwas zu entdecken, das im geschriebenen Wort oder in einer filmischen Dokumentation verborgen bleibt.


...oder im Dokumentarischen, aufgrund der reinen Inszenierung, sogar offen vertuscht wird.

Ja, denn wir alle kennen keine Bilder von Goebbels, die ihn korrumpieren würden, die ihn zeigen, wie er mit seinen Frauen oder Mitarbeitern umgegangen ist. Es gibt ihn nicht in schwachen Momenten, kaum humpelnd.

Es ist eigentlich eine große Chance der Fiktion, eine große Chance auch für einen Schauspieler.

So habe ich mich dann angenähert. Wichtig ist, dass wir in FÜHRER UND VERFÜHRER nichts hinzuerfinden. Die Goebbels-Tagebücher sind so detailliert geschrieben, dass sie reichlich Stoff anbieten, erst recht, wenn man vermag, zwischen den Zeilen zu lesen. Heute notiert Goebbels, wie unglaublich enttäuscht er von Adolf Hitler ist, und morgen feiert er ihn schon wieder als unglaubliches Genie. Er hatte eine phasenweise fast irrationale Faszination für ihn. Goebbels geht sich also manchmal selbst auf den Leim und genau in diesen Momenten wird er sehr winzig und im Grunde lächerlich. Das wiederum hat mich ebenfalls interessiert und sicher auch, auf realistischer Ebene die Absurdität und Komik in all der Grausamkeit herauszukitzeln, vor allem aber die Figur in diesen kleinen Momenten zu zeigen.

Und in ihrer Skepsis. Goebbels’ Zweifel am Krieg und an der „Endlösung“ bringen wichtige Kontur in die Figur.

Anfangs hatte er Zweifel, ja. Er erschrickt regelrecht, als Hitler ihm seine Idee vom Krieg verkündet. Dann aber, als Hitler sie verwirklichen lässt, und das zeigt Goebbels eben als unfassbaren Zyniker, nimmt er die Situation sofort an. Hier dreht er das Rad der Gräuel weiter, denn selbst das audiovisuelle Material der Taten wurde von ihm gesteuert. Am Reinwaschen dieser Taten war er absolut nicht interessiert. Goebbels wusste ab 1943 sehr wohl, dass es für die Nationalsozialisten nicht gut ausgehen würde, wollte es sich aber auch nicht nehmen lassen, sie, auf seine Art, angemessen in der Geschichte zu platzieren. Man darf nicht vergessen: Alles, was wir an Bildmaterial der Zeit des Nationalsozialismus kennen, ist von Goebbels mindestens abgenickt, wenn nicht sogar von ihm inszeniert worden. Er selbst steigt in der letzten Phase des Krieges endlich in die absolute Führungsriege auf, in jene Position, die er schon immer wollte. Das war jedoch ein Drahtseilakt, Hitler drohte ihm immer wieder mit Liebesentzug.

Sehen Sie die Rolle des Joseph Goebbels als direkte Verbindung zu den Charakteren, die Sie bislang aus der NS-Zeit verkörpert haben, so in DUELL – ENEMY AT THE GATES, JUD SÜSS – FILM OHNE GEWISSEN oder DIPLOMATIE?

Ich dachte für mich, nach DIPLOMATIE ist Schluss mit dem Spielen von bösen Deutschen. Auch weil ich finde, dass so viele andere Geschichten aus dieser Zeit noch nicht erzählt wurden, aber unbedingt erzählenswert sind. Das fängt bei katholischen Pastoren an und geht über Sozialdemokraten bis hin zum kommunistischen Widerstand. Es sind so wahnsinnig viele Menschen verboten, vergast und verschleppt worden, die so viel Gutes geleistet haben, und wir beschäftigen uns oft nur mit ihren Beherrschern und Schlächtern. Ich habe „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss als Hörbuch eingelesen, da war ich 24. Ich habe mich mit Herbert Marcuse fürs Theater beschäftigt, da war ich Anfang 30. Jetzt beschäftige ich mich schon lange Zeit mit Stefan Heym, für mich einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, der sich eben trotz der kaum fassbaren Barbarei seinen hoffnungsvollen Humanismus bewahrt hat und über sein gesamtes Leben die Mechanismen, die in den Abgrund führen, aufgezeigt und analysiert hat. Meine gesamte Denkschule streift diese Periode und sehr oft eben von der Opferseite aus. Vielleicht ist es für mich wirklich der richtige Weg dorthin gewesen, jetzt denjenigen zu spielen, der all die fortschrittlichen Denker und Autoren vernichten wollte, und ihm im Nachhinein ein Bein zu stellen.

Sie setzen den Goebbels-Dialekt sehr dezent ein, auch seine körperliche Behinderung. War es ein Balanceakt?

Nein, denn auch das hat ja mit Goebbels selbst zu tun. Er kam vom Niederrhein und wollte seinen Dialekt die ganze Zeit über ablegen und sich am Hochdeutschen versuchen. Das, was von seiner Sprache übrigbleibt, ist nicht das breite Rheinische aus Köln, es ist der Dialekt seiner Heimat, in den er immer wieder verfällt. Was das Körperliche betrifft, wollte ich nicht, dass man Mitleid mit ihm bekommt. Es wäre eine völlig falsche Emotion, deshalb habe ich sein Humpeln nur angedeutet, obwohl es durchaus Originalaufnahmen von ihm gibt, wo er kaum die Treppe hochkommt.

Sie sind auch Musiker und Sänger. Hat es Ihnen für die Rolle geholfen?

Unbedingt, man kann Tonalitäten besser steuern. Sprache ist für mich Musik, ich sitze oft im Alltag und höre den Menschen zu, achte auf ihre Nuancen, beobachte, was das mit meiner Vorstellung von ihnen macht. Goebbels hat Textkaskaden hinterlassen, man muss Beats setzen, wissen, wo Crescendo und Decrescendo kommen müssen, wo Pizzicato zu sprechen ist, Forte und Fortissimo. Ich kann mit unmusikalischen Texten nichts anfangen und leider haben Goebbelstexte Rhythmus, ansonsten hätten sie niemals so gut funktioniert. Und er hatte schriftstellerisches und improvisatorisches Talent. Aber schon ist man als Schauspieler im Zwiespalt, denn: Darf einen das faszinieren? Darf man intellektuelle Fähigkeiten, die solche Höllen errichten konnten, als Fähigkeiten anerkennen?

Lassen Sie uns auf eine markante Szene eingehen: Was haben Sie beim Dreh im Spiegel gesehen, als „ihr“ Joseph Goebbels seine berüchtigte Sportpalastrede probt?

Ich habe gesehen, was mich am meisten erschreckt: Nicht Goebbels selbst, sondern die Ideen, all das, was dieser Mensch ausgelöst und angerichtet hat. Vielleicht waren es seine Geister? Ich hatte während der Drehzeit eine schöne Wohnung in einem Fünfzigerjahre-Bau in Bratislava, wo man vom Schlafzimmer aus aufs Dach klettern konnte. Dort lag ich oft nachts, habe auf die Sterne geschaut und meine Texte gelernt. Nach dem Drehen dieser wirklich heftigen Spiegel-Szene musste ich meinen besten Freund anrufen und ihm meine Zweifel darüber sagen, ob es wirklich das Richtige ist, was ich gerade tue. Wir mussten über die andere Welt reden, die sich gegen Hitler und Goebbels und all die Verbrecher gestellt hat, mussten uns vergewissern, dass es Herbert Marcuse gegeben hat, Hans und Hilde Coppi, die Rote Kapelle, dass in Wahrheit nicht das gewonnen hat, was ich an diesem Tag in den Spiegel gesprochen hatte. Goebbels wollte die komplette Umkehr und Umdeutung von Kunst und Ästhetik, er hat es nicht geschafft!

Außenstehende verniedlichen den oft heiklen Transformationsprozess eines Schauspielers oder einer Schauspielerin hin zur Figur und zurück gern mit Worten wie „hinein- oder herausschlüpfen“. Was hat Ihnen am Ende eines Drehtages geholfen durchzuatmen?

Auf dem Weg zu meiner Wohnung in Bratislava lief ich jeden Abend durch einen Park mit Biergarten und einem kleinen alternativen Open-air-Café. Dort saßen lachende, tanzende, kiffende, Bier trinkende, knutschende junge Menschen, ich habe mich zu ihnen gesetzt, sie beobachtet, eine Zigarette geraucht und Joe Strummer gehört. Immer! Keine andere Musik, nur seine beiden Soloplatten nach The Clash. Ich weiß bis heute nicht, warum, aber es war die einzige Musik, die ich ausgehalten habe. Joe Strummer war der einzige Mensch, der mich durch diese Hölle tragen konnte. Und diese Menschen mitten in Europa, das es so eben auch gibt, egal, welche Regierung gerade an der Macht sein mag. Es ist wirklich anders gekommen, als es sich dieser Typ, den ich tagsüber zu spielen hatte, so gern vorgestellt hat. Und nun ist es weiterhin an uns, dafür zu sorgen, dass dies so bleibt.


Foto:
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Info:
Deutschland / Slowakei 2023 Länge: 135 Min
Bildformat: 2.39:1
Ton: Dolby Digital 5.1

FSK: freigegeben ab 12 Jahren
FBW: Prädikat „besonders wertvoll“ Verleih: WILD BUNCH Germany Produktion: Zeitsprung Pictures, SWR

Stab:
Buch und Regie.   Joachim A. Lang

Besetzung

Joseph Goebbels.     Robert Stadlober
Adolf Hitler                  Fritz Karl 
Magda Goebbels        Franziska Weisz 
Werner Naumann        Dominik Maringer 
Karl Hanke                   Moritz Führmann 
Wolf-Heinrich von Helldorf.   Till Firit
Veith Harlan.                  Christoph Franken
Joachim Gottschalk.      Michael Glantschnig
Lida Baarova                   Katia Fellin
Hermann Göring.             Oliver Fleischer
Heinrich Himmler              Martin Bermoser 
Alfred Rosenberg.             Wolfram Rupperti
Joachim von Ribbentrop.   Emanuel Fellmer
Otto Dietrich                        Johannes Rhomberg
Albert Speer                       Peter Windhofer
Martin Bormann                 Sebastian Thiers
Fritz Hippler                     Sascha Goepel
Leni Riefenstahl               Helene Blechinger 
Eva Braun                        Raphaela Möst
Michael Gottschalk.         Damien Erminio Ballasina 
Meta Gottschalk          Franziska Lindenthaler 
Heinz Rühmann           Raphael Nicholas
Helmut Goebbels.        Samuel Fischer 
Junger Helmut Goebbels.  Ferdinand Tuppa 
Hans Fritzsche.      Tomheinz Breitenecker

Zeitzeugen
Margot Friedländer
Elly Gotz
Ernst Grube
Charlotte Knobloch
Eva Szepesi
Eva Umlauf
Leon Weintraub

Abdruck aus dem Presseheft