ermSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos seit Mittwoch 24. Juli 2024,  Teil 7

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – Alexander van Dülmen, wann haben Sie erstmals von Peter Weiss’ DIE
ERMITTLUNG gehört und wann wurde für Sie ein Filmstoff daraus?

Alexander van Dülmen: 1988 bin ich als Delegierter zur Eröffnung der
Jugendbegegnungsstätte das erste Mal nach Auschwitz gefahren. Bei diesem
mehrtägigen Besuch habe ich zahlreiche Überlebende des Konzentrationslagers
kennengelernt und diese Erlebnisse haben mich sehr geprägt. Kurz danach hat mir
mein Vater, der Historiker gewesen ist, DIE ERMITTLUNG in die Hand gedrückt. Ich
habe die literarische Qualität und die Dimension des Buchs zunächst überhaupt nicht
wahrgenommen, ich dachte, es seien darin einfach die Protokolle des Auschwitz-
Prozesses notiert. Erst die intensivere Beschäftigung mit dem Stoff hat mir die vielen
anderen Schichten freigelegt. 2020 brachte ich persönliche biografische
Aufzeichnungen zu Papier, vor allem zu meinem Leben in den Achtzigern. Dabei
habe ich DIE ERMITTLUNG wieder gelesen. Das Buch zu verfilmen, war allerdings
noch eine sehr vage Idee. Trotzdem habe ich gefühlt, es müsse geschehen. Vor
allem, wenn wir die Möglichkeit nutzen könnten, eine Form zu finden, die das
Zeugnis der Überlebenden, aber auch das Gedenken an die Opfer auf neue Art und
Weise transportiert.


RP Kahl, wie war es bei Ihnen?

RP Kahl: Etwas anders. Ich habe DIE ERMITTLUNG nicht so früh in meinem Leben
gelesen. Zudem komme ich aus dem Osten Deutschlands, bin also völlig anders
sozialisiert. In der DDR wurde ja stets propagiert, man sei der antifaschistische Staat,
der sehr klar mit der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit
Deutschlands umgeht. In der Erziehung meiner Kindheit und Jugend hatten das KZ
Buchenwald und die kommunistischen und sozialdemokratischen Opfer eine größere
Bedeutung. Auschwitz war weit weg und drang erst viel später in mein Bewusstsein.
Peter Weiss war mir lange Zeit nur als Name präsent, vor allem aus meiner
Studienzeit in Rostock. Das dortige Volkstheater unter Hanns Anselm Perten war
einst das wichtigste Uraufführungstheater von Weiss-Stücken in der DDR. DIE
ERMITTLUNG kam auf Umwegen zu mir, tatsächlich erst, als ich schon selbst
unterrichtet habe. Ich habe meinen Studenten in einem Seminar Alain Resnais’ Film
„Nacht und Nebel“ von 1955 vorgestellt, den ich für ein erstklassiges Beispiel halte,
von zeitgeschichtlichen Ereignissen und politischen Zusammenhängen zu erzählen,
ohne einer klassischen Narration zu folgen. Dann habe ich weiter geschaut, bin
natürlich noch einmal bei Claude Lanzmanns „Shoah“ gelandet und schließlich fast
zwangsläufig bei Peter Weiss.


Was vor allem haben Sie in DIE ERMITTLUNG gefunden?

RP Kahl: Zunächst eine starke Sprache in einem starken Theaterstück. Dass es
gleichzeitig auch ein starkes Drehbuch für eine filmische Umsetzung sein könnte,
kam erst mit intensiverer Auseinandersetzung, obwohl schon Peter Weiss selbst
einen Film im Hinterkopf hatte. Ein anderer wichtiger Aspekt war für mich die
Tatsache, dass Heiner Müller mein Lehrer fürs Theater gewesen ist. In den
Neunzigerjahren war er für mich ganz klar der führende Dramatiker, Autor und 
Denker, um in Struktur, Text und im systemischen Analysieren Wirklichkeit zu
beschreiben und in Theaterwelten sichtbar zu machen. Bei Peter Weiss habe ich in
Bezug auf Sprache und Denken einen ähnlichen Ansatz entdeckt. Zum Beispiel, um
in einen Spielvorgang zu kommen, der eben nicht auf method acting beruht. Der Text
von Peter Weiss mit seiner Montage und Verdichtung ist für mich das perfekte
Drehbuch. Er ist schwer auszuhalten. Der Leser muss mit einer starken emotionalen
Reaktion umgehen und sie wird noch stärker für den Zuschauer des Filmes sein.
Trotz aller emotionaler Überwältigung macht die Dramaturgie aber eine rationale
Analyse möglich von dem, was dort verhandelt wird. So kann man das systemische
Versagen von Gesellschaft, das strukturelle Problem von Machtsituationen ohne
Kontrolle, die negative Kraft des Opportunismus, aber auch die ganz persönliche
Schuld von Einzelnen erkennen und begreifen. Die Emotion verwehrt nicht die
Möglichkeit des Denkens. Dadurch können heutige Zuschauerinnen und Zuschauer
Schlussfolgerungen für das Jetzt ziehen. Die Universalisierung ermöglicht eine
Übertragbarkeit in die Gegenwart.


Alexander van Dülmen, warum haben Sie RP Kahl als Regisseur für DIE
ERMITTLUNG angefragt?

Alexander van Dülmen: Es sollte jemand sein, der im Theater wie im Film
Kompetenz hat, denn ich wollte gerade die Theaterelemente nicht aufgeben und
trotzdem keinen in Szenen heruntergebrochenen Film. Das war nie mein Ansinnen,
sondern ein moderner Film mit der sehr speziellen Choreografie vieler Kameras. Ich
hatte RP Kahls „Als Susan Sontag im Publikum saß“ gesehen, der großartig ist, weil
er ein hoch spannendes zeitgenössisches Thema verhandelt, Genres offensiv
vermischt, fiktional ist und zugleich dokumentarisch und vor allem live. Elemente
also, die im klassischen Film normalerweise nicht zusammengebracht werden,
fusionieren hier auf verblüffende Weise.


DIE ERMITTLUNG entstand 1964 bis 1965 noch während des Auschwitz-
Prozesses. Hat es Sie beide überrascht, dass der Stoff heute nahezu ohne
inhaltliche Veränderung als Grundlage für einen Film dienen kann?

RP Kahl: Nein, nicht wirklich. Weil der Text so unfassbar stark ist. Wenn man glaubt,
die Dialoge des Buches seien die originalen Protokolle, dann liegt es einfach an der
Kraft dieses Textes und an der Art, wie stimmig Peter Weiss die Zeugen- und
Täteraussagen vor Gericht bearbeitet hat. Einerseits so, als seien sie wirklich
authentisch und jeweils nur einer konkreten Person zuzuordnen, andererseits
sprachlich so verdichtet, dass es im guten Sinne zeitlos wird und eine
Abstraktionsebene bekommt. Weil Peter Weiss eben auch ein hervorragender
Dramatiker war, wusste er um Spannung, Dynamik und wie man das Publikum
neugierig hält. Wenn man also einen schon so starken Text als Vorlage hat, dann
sollte man ihn auch benutzen.

Alexander van Dülmen: Der Text ist der Text – das war unsere Leitschnur, davon
sind wir nie abgewichen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben sich
zunächst keine Figuren vorgestellt und erarbeitet, sondern sich allein mit dem Text
auseinandergesetzt. Das macht für mich die Intensität von DIE ERMITTLUNG aus.
Wie Peter Weiss Sätze gebaut hat, besitzt für mich eine phänomenale Kraft. Wir
hätten gar nicht in den Text eingreifen dürfen. Obwohl, wir haben im
Entstehungsprozess ironischer, aber auch praktischerweise festgestellt, dass es vielleicht der erste Film ist, in dem der Regisseur gern kürzen würde und der
Produzent Nein sagt.


Weiss hat auch sehr kluge Pointen gesetzt, als Brücken zwischen den elf
Gesängen.

RP Kahl: Ja, und er arbeitet ebenfalls sehr geschickt mit Wiederholungen,
Andeutungen und Verstärkungen. Peter Weiss war eben kein Gerichtsreporter, er hat
sich, schon allein aufgrund seiner eigenen Biografie, in der gesellschaftspolitischen
Beschreibung sehr genau mit dem Thema auseinandergesetzt.

Alexander van Dülmen: Es geht bei ihm nicht vordergründig um den juristischen
Prozess, es geht immer um Auschwitz selbst. Natürlich haben wir mit den Darstellern
auch über Texttreue diskutiert. Gerade RP Kahl war darin sehr diszipliniert, denn
letztlich sind es auch brillante, sehr präzise Feinheiten in den Worten, die DIE
ERMITTLUNG so stark machen.


Wenn die Vorlage schon so stark und zeitlos ist, recherchiert man also
weniger?

RP Kahl: Man recherchiert absolut nicht weniger, denn man braucht sein eigenes
Bild zum Thema. Ich fand extrem wichtig für mich, alle Details, die im Weiss-Text
versteckt sind, zu dechiffrieren. Das geschah manchmal sogar erst nach der
Recherche, bei den Proben, dann beim Drehen oder im Schnitt. Wichtig war zum
Beispiel herauszufinden, welche Figuren bei Peter Weiss wirklich auf konkreten
Originalen beruhen, denn es ging ja auch um die Besetzung der einzelnen Rollen.
Was ich unterlassen habe, war, mir Stunde um Stunde der Aufzeichnungen aus dem
Gerichtssaal anzuhören. Es hätte mich nicht weitergebracht, eher menschlich
ermattet. Essenziell für die Recherche war hingegen, den gesellschaftlichen und
politischen Zeitgeist der Sechzigerjahre in Deutschland zu erspüren und mir den
damaligen Stand der Aufarbeitung einzuholen. Ich hatte mich ja auch den Fragen der
Schauspielerinnen und Schauspieler zu stellen.

Alexander van Dülmen: … und ihnen mit deiner Recherche und deinem Wissen
Rückhalt zu bieten. Es war unverzichtbar und eine große Fleißarbeit.

RP Kahl: Natürlich ist es auch wichtig, den aktuellen Stand der Wissenschaft zum
Holocaust zu kennen und wahrzunehmen. Hier hat mir sehr geholfen, dass wir mit
dem Institut für Zeitgeschichte in München kooperieren.


Auf dem Tableau der sparsam ausgestatteten Filmbühne sitzen die Täter im
Hintergrund, die Opferzeugen treten nach vorn und werden auch vom Licht viel
stärker akzentuiert. Warum?

RP Kahl: Den Opferzeugen, die aus sich selbst heraus erzählen und die Wahrheit
über Auschwitz ans Licht bringen, sollte eine besondere Kraft gegeben werden. Es
war uns sehr wichtig, schon beim Drehen und dann auch beim Schnitt, denn es ist in
unserer klaren Haltung als Filmemacher begründet. Unser Ziel ist es, dass mit dem
Zuschauer etwas passiert, dass er beim Verlassen des Kinos vielleicht schlucken
muss, nachdenken, schweigen, sich erst zum Thema verhalten muss und keine
schnellen Antworten hat, auch nicht in Bezug auf Zusammenhänge in unserer Gegenwart. Letztlich wollten wir zeigen, dass es möglich ist, filmisch über diese Zeit
nicht nur rein dokumentarisch, als Melodram oder sogar in komödiantischer Form zu
erzählen. Nicht historisierend, zu sehr ästhetisierend oder überschlau modern, das
wollten wir nicht. Zeitgenössisch aber, das wollten wir sein. Ich hoffe, dass es uns
gelungen ist, den Film auch für jüngere Menschen, ohne viel geschichtliches
Vorwissen, interessant zu machen. Auschwitz als historisches Ereignis prägt noch
immer die Gegenwart, weist in die Zukunft und wir wollen ja gemeinsam eine freie
demokratische und offene Gesellschaft kreieren!

Foto:
©Verleih

Info:

Mit
Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler,
Sabine Timoteo, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp,
Tom Wlaschiha, Karl Markovics, Wilfried Hochholdinger u.v.m.

Regie. RP Kahl
nach dem Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiss

Abdruck aus dem Presseheft