auschwitz 36386812 jpg 100 originalSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos seit Mittwoch 24. Juli 2024,  Teil 11

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – Am Beginn der 1960er Jahre schwankte in der Bundesrepublik die öffentliche Meinung zum Thema Aufarbeitung des bis dato dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte zwischen Extremen. In der DDR hingegen verordnete man den Nationalsozialismus als im Grunde allumfassend ausgewertet oder benutzte ihn im Klassenkampf. Hier wie dort ging es aber vor allem auch um „Rückkehr zur Normalität“ und „Aufbruch“. Zugleich wurden sehr unbequeme Fragen gestellt, gerade von der jungen Generation, die sich zumindest im Westen noch in diesem Jahrzehnt zu einer massiven Bewegung formieren würde.

Schon mit dem ersten Auschwitz-Prozess kulminierten die herausfordernden Fragen
nach Schuld, Verantwortung, Täter- und Mittäterschaft, Wissen und Mitwisserschaft,
im Besonderen aber nach der angemessenen Verurteilung der Mörder und Peiniger
vor zivilen Gerichten. Die Alliierten, so unterschiedlich ihre juristischen Verfahren in
Vorbereitung und Ausführung auch gewesen sein mögen, hatten im unmittelbaren
Nachkriegsdeutschland ihre Arbeit getan – in Ost wie West. Dass es überhaupt zur
Eröffnung der Hauptverhandlung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses am 20.
Dezember 1963 und zu dessen Urteilen am 20. August 1965 kommen konnte, lag
essenziell daran, dass sich Überlebende des Konzentrationslagers, zusammen mit
Verbündeten, auf unermüdliche Weise für Wahrheitsfindung, das Aufspüren und die
Bestrafung der Täter eingesetzt haben.

Quellen sprechen von bis zu 8000 Angestellten in den Bestandsjahren des KZ
Auschwitz (1940 bis 1945), in den ersten Jahren nach Kriegsende von 800 in ganz
Europa verurteilten Tätern, vor allem in Polen. In der Bundesrepublik Deutschland
jedoch war es nur ein Bruchteil davon. Dieser Fakt war dem Juristen Fritz Bauer ein
Dorn im Auge.

Er fungierte seit 1956 als Hessischer Generalstaatsanwalt, war selbst jüdischer
Abstammung und betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, ehemalige NS-
Schergen für ihre Morde, Mordbeihilfen und Repressalien zu verurteilen, besonders
jene, die allein in Auschwitz Verbrechen an der Menschheit mit 1,1 bis 1,2 Millionen
Toten verübt hatten. Fritz Bauers persönliche Unermüdlichkeit – gegen jeden
Widerstand, auch von Kollegen – und des in Wien lebenden ehemaligen Auschwitz-
Häftlings Hermann Langbein, Mitbegründer und Generalsekretär des Internationalen
Auschwitz-Komitees, das kollektive Sammeln von Dokumenten sowie die Anhörung
von über 1000 Zeugen führten zur Aufnahme der Ermittlungen und zur Eröffnung
eines Vorverfahrens. Schließlich wurde vom Landgericht Frankfurt/Main Anklage
erhoben. Von 22 Angeklagten saßen 20 tatsächlich vor Gericht, die Anklageschrift
umfasste 700 Seiten, auf 183 Verhandlungstage streckte sich die Dauer des
Prozesses. Die Strafen beliefen sich auf lebenslange Haft, zehn Jahre Jugendstrafe
und Zuchthausstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren. Drei Angeklagte
wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Von der Staatsanwaltschaft
gefordert, wurde indes vor allem eines: lebenslang. Das Wort von „zu großer Milde“
machte danach die Runde.

Während des international zahlreich beobachteten und beachteten Frankfurter
Prozesses „Strafsache gegen Mulka u.a. 4 Ks 2/63“ befragte man 359 Zeugen, über 
200 ehemalige Auschwitzhäftlinge waren darunter. Sie kamen aus 19 Ländern und
zumeist erstmals seit Kriegsende nach (West-)Deutschland. Viele von ihnen
sprachen zudem das erste Mal über die Ereignisse im Lager, zum Teil sehr emotional
bis an die Grenzen ihrer Kräfte. Auf den Zuschauerplätzen saßen einfache Bürger,
Verwandte von Tätern und Opfern, Historiker, Schulklassen, Intellektuelle,
Journalisten und Schriftsteller wie Max Frisch, Arthur Miller, Martin Walser – und
Peter Weiss.

Im Dezember 1964 reiste eine Delegation mit Prozessbeteiligten, darunter ein
Staatsanwalt und mehrere Verteidiger, zu Ortsbesichtigungen nach Auschwitz und
Birkenau. Die Reise selbst, aber auch Dokumente aus Polen, die zur Verfügung
gestellt wurden, waren nur aufgrund von Kontakten und Vermittlungen ehemaliger
Häftlinge möglich. Das in Frankfurt/Main ansässige Fritz Bauer Institut schreibt zu
den Prozess-Hintergründen: „Neben dem Nachweis von Tatumfang und Tatschuld
der einzelnen Angeklagten war es das erklärte Ziel der Strafverfolger, über die
menschheitsgeschichtlich beispiellose Massenvernichtung in Auschwitz im Rahmen
eines Sammelverfahrens gegen Holocaust-Täter aufzuklären, das
Gesamtgeschehen in Auschwitz zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Durch
das Verfahren wollten die Ankläger einen Beitrag zur Bildung eines neuen, durch den
Nazismus und die »Verstrickung« der Tätergeneration so schwer beschädigten
Rechtsbewusstseins leisten.“ Es war also klar, dass es de jure zwar um Paragrafen
gehen musste, insgesamt aber um weit mehr als nur ein Strafmaß unter anderem für
SS-Mediziner wie Willy Frank und Franz Lucas, die beiden Adjutanten des
Lagerkommandanten Robert Mulka und Karl Höcker, Apotheker Victor Capesius,
Arrestaufseher Bruno Schlage, Rapportführer Oswald Kaduk, Angehörige der Lager-
Gestapo wie Wilhelm Boger und Pery Broad oder Funktionshäftling Emil Bednarek.
Im schriftlichen Urteil bekannte das Gericht unter Vorsitz von Richter Hans Hofmeyer:
„Angesichts der unzähligen Opfer eines verbrecherischen Regimes und dem
unsäglichen Leid, das die in der Geschichte beispiellose, planmäßig betriebene, auf
teuflische Weise ersonnene Ausrottung von Hunderttausenden von Familien nicht nur
über die Opfer selbst, sondern über unzählige Menschen, vor allem über das
gesamte jüdische Volk gebracht und das deutsche Volk mit einem Makel belastet hat,
erscheint es kaum möglich, durch irdische Strafen eine dem Umfang und der
Schwere der im KL Auschwitz begangenen Verbrechen angemessene Sühne zu
finden.“ Die Bilanz des Vorsitzenden Hofmeyer ist auch mit seinem folgenden,
sichtlich bewegt gesprochenen Satz ins Geschichtsbild einer ganzen Nation
eingegangen: „Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in
die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne dass im Hintergrund
und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen
der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind.“
Neben Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler war Gerhard Wiese Staatsanwalt
des ersten Auschwitz-Prozesses. 95-jährig, sagte er 2023: „Die Angeklagten, die bis
zum Schluss weder zu ihren Taten standen, noch Reue zeigten, wirkten wie eine
Ansammlung biederer Mitbürger. Das machte im Licht der Zeugenaussagen und
belegbaren Taten ihren Schrecken aus.“ Tatsächlich wurden die Angeklagten, die
während des Prozesses schwiegen, sich nicht erinnern wollten und eigene
Tötungsbeteiligungen leugneten beziehungsweise relativierten, aus der
Eingliederung eines „grundsoliden“ Lebens geholt, waren Berufsschullehrer,
Buchhalter, Arzt, Bankangestellter, Waldarbeiter oder Pfleger. Wiese: „Plötzlich sahen
die Leute, dass unter ihnen noch etliche mit sehr viel Dreck am Stecken lebten.“
Die gesamten Verfahrensakten mit über 450 Bänden und über 100
Tonbandmitschnitten des ersten und am Ende wegweisenden Auschwitz-Prozesses
gehören seit 2017 zum Unesco-Weltdokumentenerbe.
Dem ersten folgten in Frankfurt/Main bis Ende der Sechzigerjahre noch zwei weitere
Auschwitz-Prozesse gegen Angestellte des Verwaltungsapparats und
Funktionshäftlinge.

Herausgegeben vom Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-
Birkenau, sind mehrere Editionen verfügbar, die die Dokumente des Prozesses
öffentlich machen, darunter die DVD „Der Auschwitz-Prozess – Tonbandmitschnitte,
Protokolle und Dokumente“ sowie eine DVD-Rom mit 80.000 Druckseiten und über
100 Stunden Hörmaterial.


Foto:
©Deutschlandfunk

Info:

Mit
Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler,
Sabine Timoteo, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp,
Tom Wlaschiha, Karl Markovics, Wilfried Hochholdinger u.v.m.

Regie. RP Kahl
nach dem Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiss                                                                                                                                                                                               
Abdruck aus dem Presseheft