Weiss PeterSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos seit Mittwoch 24. Juli 2024,  Teil 13

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – Der Kulturhistoriker und Autor Hermann Glaser (1928-2018) untersuchte im essayistischen Vorwort der 1974er Ausgabe seines Sachbuchs „Spießer-Ideologie – Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus“ den deutschen Provinzialismus auf seinen „faschistoiden Gehalt“. Er mutmaßte schon damals, die Thematik wäre von „prophylaktischer Aktualität“. Fast zehn Jahre waren nach der Erstveröffentlichung des Bandes vergangen.

Glaser, der vehement nach dem Ursprung des deutschen Nationalsozialismus forschte und sich mit den Ist-Zuständen der deutschen Gesellschaft in dessen Nachklang beschäftigte, polarisierte mit seinen Thesen. Das musste so sein, wo gerade der Auschwitz-Prozess in Teilen der deutschen Bevölkerung keinesfalls unumstritten war. Dabei legte auch Hermann Glaser „nur“ Finger in Wunden, analysierte zeitgeschichtliche Ignoranz, hinterfragte neben dem Geschichtsbewusstsein auch die Kulturindustrie im Umgang mit dem tiefsten Abgrund deutscher Historie gerade hinsichtlich Schuld und Identität und im Hinblick auf das Heranwachsen der ersten Nachkriegsgeneration. Und er stellte Fragen zur öffentlichen Meinung nach einem Schlussstrich, was die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs anbetraf: „Schluss mit moralischer Verantwortung, mit der Erinnerung an die geschundene Kreatur und den Hohn der Täter? Soll unser allenthalben gepriesenes abendländisches Geschichtsbewusstsein mit einem so schwachen Erinnerungsvermögen ausgestattet sein, dass es jeweils nach zwei, drei Jahrzehnten nur noch das ,behält’, was sich in Hochglanz präsentieren lässt und der Betroffenheit aus dem Weg geht?“

Im Aufruf, komplexe systemische Fragen ehrlich und gründlich zu beantworten und darüber den Diskurs zu suchen, hatte Glaser in Peter Weiss einen Bruder im Geiste gefunden. Dem Sohn einer Schweizer Schauspielerin und eines ungarisch-jüdischen Fabrikanten ging es zeitlebens um die Verankerung seiner Kunst in der Gesellschaft – Weiss war nicht nur Schriftsteller und Dramatiker, sondern auch Maler, Illustrator, Übersetzer und Filmregisseur und sagte 1964 in einem Interview: „Ich habe immer Perioden, in denen ich schwanke, ob es nun ein Bild werden soll oder ein Film oder Prosa oder ein Bühnenstück.“ Worin er nie schwankte, war sein Ansinnen, unbequem und engagiert zu sein. Weiss wollte Dingen auf den Grund gehen und blieb darin ruhelos und heimatlos. Man nannte ihn einen „Unzugehörigen“. Nicht ohne Grund.

Geboren am 8. November 1916 in Nowawes/Neubabelsberg, werden er und seine Familie zu Flüchtenden, doch stets, so scheint es, erwischen sie den richtigen Moment zum Gehen: Von Bremen aus, wo Weiss aufwuchs, erst nach Berlin, dann nach England, von dort in die Tschechoslowakei und schlussendlich nach Schweden. Peter Weiss spürt zeitig, dass er schreiben will und malen. Bei Hermann Hesse in der Schweiz holt sich der junge Mann eine besondere Art der Absolution im Schreiben und gleichzeitig eine Warnung („Einsamkeit ist Ihre Gefahr!“), beim Studium an der Prager Kunstakademie erste Meriten als Maler. 1939 wird Schweden zunächst nur das Land, wohin er emigriert, weil Eltern und Geschwister schon dort sind. Bis zu seinem Tod aber wird Weiss seinen Lebensmittelpunkt, trotz mehrfacher Anläufe, nie mehr nach Deutschland verlegen. Er heiratet nach zwei gescheiterten frühen Ehen die schwedische Keramikerin, Bühnen- und Kostümbildnerin Gunilla Palmstierna und bekommt mit ihr 1972 Tochter Nadja, die Regisseurin und Schauspielerin geworden ist.

Peter Weiss schreibt seine Manuskripte für Prosa, Gedichte und Theaterstücke auf Schwedisch, lange Zeit, ohne Verlage dafür zu finden. Und er versucht, das Deutsche „rein zu halten und lebendig“, muss und will dafür nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder nach Deutschland reisen. 1947 wird in dieser Beziehung zu einem markanten Jahr in seiner Biografie und letztlich auch für sein Drama DIE
ERMITTLUNG: Für eine schwedische Tageszeitung schreibt er „mit Kühle und Distanz“ Korrespondenzen aus Berlin, ist schockiert vom Hass des in Sektoren aufgeteilten Landes und spürt allerorten einen „Leerraum, wo der Dämon gewütet hatte.“ Das Sehen wird für ihn Beschäftigung, auch das Beobachten beider deutschen Staaten nach deren Gründung 1949.

1960 erscheint das erste Weiss-Buch auf Deutsch („Der Schatten des Körpers des Kutschers“), vier Jahre später mit „Marat/Sade“ das erste Bühnenstück, mit dem gleichzeitig sein internationaler Erfolg und sein „Doppelleben“ in Ost- und Westdeutschland beginnt, wo er als Dramatiker Anerkennung und Aufführungsmöglichkeiten wie auch Ablehnung und Absagen bekommt, gar Verbote bis hin zur Ausweisung aus der DDR. Peter Weiss zeigt sich immer wieder betroffen von zum Teil heftigen und destruktiven Reaktionen auf ihn und seine Kunst. Im Westen kollidiert neben DIE ERMITTLUNG (1965) vor allem auch „Der Viet Nam Diskurs“ (1968), im Osten wird es sich Weiss bei den Kulturoberen mit Theaterstücken über Trotzki und Hölderlin verderben. Er sagt: „Unsere Krankheiten sind zumeist politische Krankheiten. Wenn uns der Atem wegbleibt, wenn das Blut in den Adern stockt, das Herz aussetzt, dann hat sich unser Überdruss im Organismus eingenistet, dann reagieren wir mit unserer ganzen Person, als Einheit, als Naturwesen auf eine Situation, der mit Vernunft nicht mehr beizukommen ist.“

Gleichzeitig ist er der Meinung, dass das moralische Engagement der Menschen die Voraussetzung sei, dass sie sich überhaupt in ihrer Einstellung verändern. Vision trifft Konfrontation – Peter Weiss, der sich selbst als Sozialist bezeichnet hat, geht es ans Herz. Doch: „Die Utopie, die Hoffnung sind ganz wichtige Motive für uns, die wir politisch denken.“ Zwischen 1952 und 1960 widmete sich Peter Weiss ganz dem Filmen. Es entstanden zwölf zunächst surreale und experimentelle, dann mehr und mehr dokumentarische Kurzfilme sowie zwei Langfilme, darunter ein Spielfilm. Regisseur und Autor Harun
Farocki, der Peter Weiss Ende der Siebzigerjahre in Stockholm für eine Fernsehdokumentation besuchte, ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass eine Auswahl dieser Streifen auf DVD zur Verfügung stehen.

Neben DIE ERMITTLUNG wird es schließlich die in einem Zeitraum von zehn Jahren entstandene Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“ sein, erschienen 1975/1978/1981, die heute zu den bleibenden Weiss’schen Hauptwerken gehört. Am 10. Mai 1982 stirbt Peter Weiss in Stockholm. Er, der sagte: „Meine ganze Arbeit viele Jahre lang hat darauf beruht, dass ich die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung überwinden musste.“

Das Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste wacht über seinen 250 Bände starken literarischen Nachlass, jenes Kulturinstitut also, das 1965 verantwortlich zeichnete für die Uraufführung von DIE ERMITTLUNG in Berlin/DDR.

Foto:
©Peter Weiss Haus

Info:

Mit
Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler,
Sabine Timoteo, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp,
Tom Wlaschiha, Karl Markovics, Wilfried Hochholdinger u.v.m.

Regie. RP Kahl
nach dem Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiss                                                                                                                                                                                               
Abdruck aus dem Presseheft