ermitSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos seit Mittwoch 24. Juli 2024,  Teil 8

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) – War der bereits existierende internationale Filmkanon über die NS-Zeit eine
Herausforderung für Sie?

RP Kahl: Natürlich war es eine Herausforderung, wie ich mich zu den Filmen
verhalte, die bislang schon über den Nationalsozialismus, den Holocaust und auch
Auschwitz gemacht worden sind. Jeder, der diese Themen angepackt hat, musste
eigene Antworten suchen und finden, wie er es umsetzen will und warum. Mir hat
dabei „Bilder trotz allem“, ein soziologischer Essay von Georges Didi-Huberman,
sehr geholfen. Ich habe sehr lange vom Unbeschreiblichen in Bezug auf Auschwitz
gesprochen. Heute würde ich es nicht mehr so sagen. Ich habe gelernt, dass es zu
beschreiben ist, denn es hat stattgefunden. So ist jedenfalls der Ansatz unserer
filmischen Umsetzung. Didi-Huberman schreibt: „Wir müssen versuchen, uns ein Bild
davon zu machen, was im Sommer 1944 die Hölle von Auschwitz gewesen ist.
Berufen wir uns nicht auf das Unvorstellbare. Schützen wir uns nicht durch den
Hinweis darauf, dass wir uns diese Hölle ohnehin nie vollständig werden vorstellen
können – auch wenn es sich tatsächlich so verhält.“ Didi-Huberman führt seinen
Diskurs auch anhand einer kleinen Serie von Fotos, die ein Häftling heimlich in
Auschwitz anfertigen konnte. Diese ganz besonderen Bilder, die unter anderem auch
Gerhard Richter als Maler für seinen Birkenau-Zyklus benutzt hat, konnten wir für die
Anfangsmontage unseres Films nutzen. Und um konkret auf die Frage des filmischen
Kanons zurückzukommen: Natürlich hatte ich Spielbergs „Schindlers Liste“ und
Lanzmanns „Shoah“ im Bewusstsein, als wir unseren Film entwickelten. Und eine
Szene hat sich tief in mir eingebrannt, als ich als Jugendlicher den DEFA-Film
„Professor Mamlock“ von Konrad Wolf sah: Als Mamlock von den Nazis durch die
Straßen abgeführt und vorher groß auf seinen Arztkittel „Jude“ geschmiert wurde.
Diese Verachtung! Diese Erniedrigung!


Wie schwer war es, den Filmton für DIE ERMITTLUNG zu finden und ihn vier
Stunden lang zu halten?

RP Kahl: Die Tonalität ergab sich aus meinem Vorschlag ans Ensemble, wie ich die
handelnden Personen im Kopf hatte und wie sie zusammen agieren sollten. Die
grundsätzliche Idee also war, keinen psychologischen „Spielfilm-Spielfilm“ zu drehen,
in dem es darum geht, intuitiv in den Figuren zu versinken. Das wäre falsch
gewesen. Wir haben Schauspielerinnen und Schauspieler gesucht, die eine Figur
und eine Situation in erster Linie über die Sprache abbilden können. Solche, die eine
starke Persönlichkeit und Präsenz mitbringen und persönliches Interesse daran
haben, den Inhalt des Stückes zu erzählen, also auch ein wenig „Persona“ zu sein,
ihr Ich den Figuren zu schenken. Genau das hat wesentlich dabei geholfen, den Ton
des Films zu setzen. Der Schlüssel, ihn zu treffen und anzugleichen, lag in den
knapp vierwöchigen Proben. Den Ton dann beim fünftägigen Dreh in diesem riesigen
Studio mit acht Kameras und all der anderen Technik zu halten, war eine spezielle Herausforderung. Ich musste ihn stets abgleichen mit dem Ton, den ich für den Film
im Kopf hatte.


Alexander van Dülmen: Letztlich galt auch hier: Der Text ist der Text. So
dogmatisch diese Aussage sein mag, künstlerisch hat sie Entfaltung gebracht. Die
große Leistung des Regisseurs war es, diesen Bühnentext, der es ja im Ursprung ist,
zu einem Film zu transformieren. Die Tonalität liegt also auch in dem, was wir in den
Gesichtern der Schauspielerinnen und Schauspieler sehen, wenn sie sprechen, in
ihren Reaktionen, wenn sie den anderen zuhören.

RP Kahl: Mein Vorschlag schon bei den Proben in großen Gruppen war folgender:
Nehmt den Text als das, was er ist, sprecht ihn und ihr werdet als Mensch verstehen,
was den Kern der Figur ausmacht. Und wenn euch dann als Resonanz noch eine
emotionale Reaktion geschieht, lasst sie zu! Die Kamera wird es sehen!


Lassen Sie uns bitte nur eine Figur herausnehmen, bei der die Arbeits- und
Wirkungsweise von DIE ERMITTLUNG als Film besonders sichtbar wird. Sabine
Timoteo spielt Zeugin 17 und sie bebt, zittert, verliert fast die Stimme, während
der Spot auf sie gerichtet ist und die anderen ins Dunkel tauchen.

RP Kahl: Ich wusste, dass Sabine Timoteo für diese Figur die perfekte Besetzung ist.
Wir kennen uns schon lange, vertrauen, erkennen und schauen nach uns. Es war
nicht so, dass sie sofort davon begeistert war, die Rolle in DIE ERMITTLUNG zu
spielen. Ich wusste aber, dass sie ihren eigenen Weg finden wird, die Figur zu
gestalten. In den Proben hat Sabine schon angedeutet, wohin es sie führen wird. Ich
musste überhaupt nicht eingreifen, im Gegenteil. Sabine wollte dieser Figur ihr
Innerstes schenken und wir wollten sie über Kamera und Schnitt als Solitär innerhalb
dieses Ensembles erzählen, ohne aufdringlich zu werden.


Was auffällt und zunächst durchaus verstören kann, ist die Heterogenität in der
Besetzung, die sehr unterschiedliche Facetten von Schauspielkunst erzeugt.
Und: Die in der Vorlage auf neun Zeugen begrenzte Auswahl wird im Film von
39 Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert. Warum diese
Entscheidung?

RP Kahl: Dazu gibt es verschiedene Aspekte. Peter Weiss wollte damals das
Systemische deutlicher herausarbeiten, deshalb hat er fürs Theater mit nur neun
Zeugen gearbeitet, wobei zwei davon keine Inhaftierten sind, sondern Zeugen, die
auf Seiten der Lagerverwaltung in Auschwitz standen. Dadurch, dass wir aber mit der
Kamera viel näher an Gesichter kommen, wollten wir ein Stück weit die mögliche
Verwirrung beim Zuschauer aufheben. Wir wollten immer dann einen neuen Spieler
auftreten lassen, wenn ein neuer Zeuge spürbar ist. Mit jetzt 39 Schauspielerinnen
und Schauspielern für die Zeugenfiguren, davon 28 Häftlings-Zeugen und elf Zeugen
der Lagerverwaltung, konnten wir auch im Alter variabler besetzen und wir haben viel
mehr Frauen dabei. Uns war ebenso wichtig, daran zu erinnern, dass die meisten der
Opfer in Auschwitz nichtdeutscher Herkunft waren, Ukrainer, Franzosen,
Niederländer, Russen, Polen, Slowaken, Tschechen, Ungarn, Rumänen. Aus diesen
Ländern kommen dann eben auch Teile unserer Besetzung, wobei wir prozentual auf
eine Eins-zu-eins-Repräsentanz der Realität verzichten wollten.


Die Sprache aber bleibt deutsch.

RP Kahl: Ja, nur die unterschiedlichen Akzente waren uns wichtig. Übersetzungen
mit Dolmetschern wären eher einem Fetisch in Sachen Wirklichkeit gleichgekommen.


Was war bei den gemeinsamen Proben essenziell?

RP Kahl: Es ging bei den Proben nicht darum, etwas Wiederholbares wie im Theater
zu erschaffen, sondern es ging wirklich um den Moment vor der Kamera, also das,
was Film ausmacht. Mein Job als Regisseur war es, diesen Moment vorzubereiten
und die Schauspielerinnen und Schauspieler auf dem jeweils unterschiedlichen
Stand ihrer gewohnten Arbeitsweisen abzuholen und auszutarieren. Hier Regie zu
führen, bestand manchmal einfach nur darin, ein langes Gespräch mit einem
Schauspieler außerhalb des Studios zu führen, draußen in der Sonne.


DIE ERMITTLUNG als Projekt klingt nach einer logistischen Anstrengung. War
es das?

Alexander van Dülmen: Wir hatten am Ende einen riesigen Vorteil und das war
eben das Studio. Langwierige An- und Abreisen zu und von wechselnden Drehorten
sind also entfallen. Zudem haben wir extrem viel an früher Vorbereitung und
Organisation geleistet. Allein die Auswahl der Mitglieder des Teams hat dem Ablauf
der Produktion enorm geholfen. Alle diese Menschen haben uns Sicherheit
vermittelt, wobei wir mit sehr unterschiedlichen Referenzen gearbeitet haben. RP
Kahl hat Erfahrung als Regisseur und Schauspieler in Film und Theater, mit Guido
Frenzel hatten wir einen Kameramann, der aus dem Showbereich kommt wie auch
Lichtmann Peer Langemak. Nina Peller ist eine hervorragende Bühnenbildnerin am
Theater, die völlig filmfremd und unbelastet, aber erfrischend und frech an die Arbeit
gegangen ist. Auch Tina Kloempken für die Kostümgestaltung, die eher Oper macht,
war mit ihrer wahnsinnigen Ruhe ein absoluter Glücksfall für uns, genau wie der
leider im Dezember 2023 verstorbene Cutter Peter R. Adam, der normalerweise
niemals vor den Dreharbeiten in ein Projekt eingestiegen ist. Hier aber schon und es
hat uns sehr geholfen, denn der Schnitt hat sich aufgrund der Komplexität und der
Menge der Aufnahmen als noch größere Herausforderung herausgestellt als das
Drehen selbst.

RP Kahl: Ich selbst habe Spaß am Organisieren und daran, Tabellen zu bauen mit
all den Angaben, wer, wo und wann mit wem in welcher Konstellation auftreten muss.
Das war für die Probenvorbereitung sehr wichtig. Allerdings hat uns hier das Stück
selbst in seiner klaren Struktur der elf Gesänge geholfen, die wir noch einmal in
mathematische Inseln aufgeteilt und dann Beats genannt haben. Es glich einem
Vexierspiel.

Alexander van Dülmen: Wir haben manche Regeln auf den Kopf gestellt. In der
Woche vor dem eigentlichen Dreh hat man es wirklich knirschen gehört und es war
notwendig.

RP Kahl: Wir haben in einem Raum gedreht, wo ansonsten die großen Shows
produziert werden. Die Lampen, die dort hängen, sind keine Film-, sondern
Showlampen! Christian A. Buschhoff, unserer Technischer Leiter, hat am Ende alle
Elemente aus Film, Theater, Show und Fernsehen zu einem Hybrid organisch
zusammengebracht.

Alexander van Dülmen: Es waren fünf extrem intensive Drehtage, die wie im Flug
vergangen sind. Ich glaube für jeden sprechen zu können, der beteiligt war, dass es
eine Zeit war, die er oder sie niemals in ihrem Leben vergessen wird


Karl Markovics, einer der Schauspieler, sagt, der Film sei eine „Zumutung“,
Bernhard Schütz, ein anderer, er wäre „eine Beschwörung der Toten“.

Alexander van Dülmen: Ich weiß, dass „Zumutung“ bei Karl Markovics nicht etwas
Ablehnendes meint, sondern schlicht die Tatsache, sich Auschwitz zu stellen. Ich
kann das sehr gut nachvollziehen. Und Bernhard Schütz hat es wunderbar auf den
Punkt gebracht, schließlich haben wir den Film auch für jene gemacht, die in
Auschwitz umgekommen sind oder überlebt haben. Und für unsere nachfolgende
Generation. Das hat uns alle motiviert.

RP Kahl: Auch Bernhard Schütz, der den Verteidiger der Täter spielt, musste seine
Rolle als Darsteller zunächst einmal aushalten, das darf man nicht vergessen. Und,
ja, natürlich muss das Kinopublikum den Film ebenfalls aushalten, allein aufgrund
seiner Länge. Es muss ihm wirklich zuhören, um am Ende jenen Nachhall erleben zu
können, den wir uns wünschen, wenn das Publikum das Kino verlässt. Es kann eine
Empfindung sein, die bleibt, ein Gefühl, Wut, vielleicht auch unangenehmes Bohren
oder eine Erkenntnis.


DIE ERMITTLUNG lebt eindeutig von seinen Darstellerinnen und Darstellern.


RP Kahl: Ihre Präsenz und Direktheit, ihre Ehrlichkeit und Emotion tragen letztlich
den Film. Es war eine große Freude, mit 60 so tollen Schauspielerinnen und
Schauspielern zusammenarbeiten zu können. Die Schauspieler der 18 Angeklagten
hatten eine besonders schwierige Aufgabe. Den ganzen Film über sind sie im Bild
und müssen mitspielen, auch in kleinsten Momenten. Neben Bernhard Schütz als
Verteidiger waren Rainer Bock als Richter und Clemens Schick als Ankläger im
Probenprozess besonders prägend. Rainer Bock hatte einen wahnsinnig langen Text
zu lernen und musste immer wieder in die Nüchternheit der Richterfigur hineingehen.
Er hat das gesamte Ensemble auf unsichtbare Art geführt, das hat mir als Regisseur
sehr geholfen. Clemens Schick wiederum hat eine ungeheure Körperlichkeit in
diesen Film, der sehr auf Textarbeit basiert, eingebracht. Man sieht förmlich in jedem
Muskel, jeder Regung, mit welcher Energie, mit welcher Wut der Ankläger versucht,
die Wahrheit ans Licht zu bringen und gegen das Mauern, Schweigen und Lügen der
Täter anzugehen. Diese Figur ist für mich besonders wichtig. Sie kann hoffentlich für
uns als Gesellschaft stehen, für unseren Willen zur Aufklärung, zur Gerechtigkeit, zur
Verantwortung.


Erst am Schluss erklingt mit „Lento e Largo – Tranquillissimo“ ein
Gesangsstück aus Henryk Góreckis Symphony No. 3, interpretiert von der
Portishead-Stimme Beth Gibbons, während es zuvor nur vereinzelte
skizzenhafte Sounds von Matti Gajek zu hören gibt. Warum dieses große
akustische Ende?

RP Kahl: Wir wollten dem Publikum erlauben, in eine gewisse Form von Emotion
und Versöhnung einzusteigen, vorausgesetzt, man will es. Wir sind sehr glücklich
darüber, die Rechte der Beth-Gibbons-Fassung von „Lento e Largo“ so
komplikationslos bekommen zu haben.
 
Foto:
©Verleih

Info:

Mit
Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Arno Frisch, Thomas Dehler,
Sabine Timoteo, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp,
Tom Wlaschiha, Karl Markovics, Wilfried Hochholdinger u.v.m.

Regie. RP Kahl
nach dem Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiss

Abdruck aus dem Presseheft