Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. Oktober 2024, Teil 10
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Was bedeutet der Titel des Films?
Als ich anfing, über moderne Architektur zu lesen, wurde mir klar, dass mindestens fünf der heutigen modernen Architekten sich von der russischen Avantgarde inspirieren ließen, insbesondere von Kasimir Malewitsch. Ich fand dieses Wort „Architecton“ und wusste nicht, was es bedeutet. Dann, während der Pandemie, schrieb ich etwas für den Film und schickte es an meinen Produzenten, mit dem ich schon vorher gearbeitet hatte. Am nächsten Tag rief er mich an und sagte: „Ich habe nichts verstanden. Und warum heißt der Film ARCHITECTON?“ Und ich sagte: „Nun, dann hast du es nicht gelesen, denn ich erkläre es auf der letzten Seite.“
Ich war wütend, weil er nichts verstanden hatte. In diesem Moment rief mich Alexander Nikolajewitsch Sokurow an und sagte mir, ich solle mich beruhigen. Also schaltete ich mein Telefon aus und sagte mir, dass ich das dickste Buch, das ich zu Hause habe, in einem Rutsch lesen würde. Das dickste, das ich hatte, war „Krieg und Frieden“ von Tolstoi. Also habe ich 2000 Seiten von vorne bis hinten gelesen. Am Ende des Buches blickt die Hauptfigur zum Himmel und sagt: „Großer Architecton der Natur, bitte hilf mir, aus diesem Labyrinth der Lügen herauszukommen.“ „Architecton“, er spricht dieses Wort aus! Und ich habe nachgesehen, wie es in anderen Sprachen übersetzt wird - alle haben es mit „Architekt“ übersetzt. Mir wurde klar, dass niemand wusste, was das Wort wirklich bedeutet.
Also habe ich nachgeschaut, woher es kommt. Wenn viele Architekten an einem Projekt arbeiten, wird der Chef der Architekten „Architecton“ genannt. Es ist also der Architekt der Architekten. Der Begriff wird auch für jemanden verwendet, der „dieses Universum erschafft“. Nicht Gott, sondern der „Architecton“ des Universums. In gewisser Weise hat Tolstoi mir also gesagt: „Victor, du tust das Richtige“. Es ist dasselbe, wie wenn Michele in seinem Garten den Kreis zieht und eine kleine runde Scheibe findet. Einen Kreis zu finden, während man einen Kreis zieht – das ist ein Zeichen, das es so vorherbestimmt ist!
Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen der antiken Ruinen im Film unterscheiden sich stilistisch stark vom Rest des Films. Wie sind diese Aufnahmen entstanden und was hat Sie dazu inspiriert?
Wir wollten Pflanzen Aufmerksamkeit schenken und haben uns überlegt, wie wir sie filmen können. Wenn man in Schwarz-Weiß filmt, sind sie einfach nur grau. Wir haben uns gefragt, wie man sie wirklich sichtbar machen kann. Dann haben wir einen Weg gefunden, sie so zu filmen, dass sie sich abheben und die Blätter weiß statt grau aussehen. Aber dann wurde uns klar, dass Giovanni Battista Piranesi eine ähnliche Art von Bildern gemacht hatte, er hatte mehr oder weniger ähnliche Ideen. Keiner glaubte an seine Kupferstiche und Bilder, als er sie machte. Niemand glaubte, dass das, was er tat, wahr war. Wir begannen, die Orte zu bereisen, an denen Piranesi gewesen war, und wir stellten fest, dass die Ruinen, die wir filmten, auch die waren, die er malte. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen im Film sind also von ihm inspiriert.
Der Film bezieht die Position, dass es der Modernen Architektur an Schönheit mangelt. Woran liegt das?
Wir leben in der Ära des Zements, des Betons und des Zuckers. In unseren Körpern tötet uns langsam der Zucker ebenso wie die moderne Architektur unsere Städte zerstört. Beides ist schnell zu produzieren und billig, aber wir übersehen dabei den größeren Zusammenhang. Über tausende von Jahren kannten die Menschen genau den Wert der Dinge, die sie herstellten – sie bearbeiteten einen gigantischen Stein und wussten, diese Arbeit ist für die Ewigkeit. Aber die heutige Architektur hat keinen Sinn für die Zukunft. Sie haben keine Ahnung, was sie im Zentrum einer Stadt bauen sollen, weil die Welt sich so schnell verändert. Wir wissen nicht, welche Art von Gebäuden wir in 20 Jahren brauchen werden, also gibt es dafür auch keinerlei Vision. Auch spielt das Konzept Heimat in der Architektur keine Rolle mehr – wenn du an einem wunderschönen Ort aufgewachsen ist, dann bleibt dies eine Erinnerung deines Herzens, aber wenn du an einem hässlichen Ort aufgewachsen bist, der von traurigen Rechtecken strukturiert war, dann könntest du bis an dein Lebensende deprimiert sein. Moderne Gestaltung kann eine Katastrophe für unsere mentale Gesundheit sein.
Der perfekte Kreis in Ihrem Film symbolisiert ein bestimmtes Ideal – stellt aber auch unseren Untergang in Aussicht.
Platon ging darauf in seinen Schriften über Atlantis ein, in denen er fragte, warum wir immer und immer wieder bei Null anfangen. Gebildete Menschen bauen Städte in der Nähe des Wassers, sie entwickeln Sprache und Kultur, doch dann wird alles überflutet und die Überlebenden ziehen in die Berge bis dann, Jahrhunderte später, ihre Kinder sich wieder am Wasser niederlassen und dort neue Städte bauen.
Wie kann man diesen Kreislauf durchbrechen?
Das ist ein systematisches Problem in unserem Verhältnis zur Natur – sie ist uns einfach scheißegal. Was in unserem Leben fehlt, ist Toleranz, Empathie und Scham. Die Menschheit befindet sich an einem prekären Ort und während das Menschliche noch existiert, müssen wir die nächsten Schritte im Auge behalten, für die Menschlichkeit vielleicht schon nicht mehr genug ist.
Was hoffen Sie, dass die Zuschauer aus dem Film mitnehmen werden?
Wir leben in der Zeit der Langweile. Wenn man sich umschaut, besteht alles nur aus flachen Rechtecken. Man muss nicht Architektur oder Schönheit studiert haben, um diese Rechtecke zu bauen. Wir akzeptieren diese Hässlichkeit, aber sie zerstört unsere Herzen, unsere Seelen. Jeden Morgen wache ich auf und sehe ein hässliches Gebäude vor mir. Wenn ich aufwache und ein schönes Gebäude sehe, dann bin ich glücklich.
Architekten haben eine andere Verantwortung. Wir leben in der Ära von Zucker und Zement. Beides sind furchtbare Erfindungen unserer Zeit und sie sind sich sehr ähnlich. Warum nicht einen Keks essen? Warum nicht schnell dieses Gebäude bauen? Aber auf lange Sicht ruinieren diese beiden Dinge die Menschen. Mir gefällt, was Michele am Ende des Films sagt: Wir bauen nicht nur Gebäude, wir bauen auch eine Art zu leben. Die Pandemie hat uns etwas Wichtiges gelehrt: Es gibt Dinge, die wir auf der Ebene einer Stadt oder eines Landes lösen können. Aber es gibt auch Dinge, die wir nur gemeinsam lösen können. Wir können die Pandemie nur lösen, wenn der gesamte Planet sich einig ist: „Wir haben ein Problem, und wir müssen es bekämpfen“. Was sich heute mit Zement und Beton abspielt, ist katastrophal. Es ist größer als alles andere. Es ist das Äquivalent zur Fleischproduktion. Wenn die Prognose von 10 Milliarden Menschen zutrifft, werden wir einfach überall auf der Welt hässliche Gebäude aus Beton bauen. Wir werden unseren Planeten demolieren. Ich rufe die Wissenschaftler und Ingenieure auf: Wir müssen 8 Milliarden Gehirne mobilisieren, um einen Ersatz für Beton zu finden. Wir müssen etwas finden, das es uns ermöglicht, Dinge zu bauen, die Bestand haben, und zwar mit Respekt vor der Natur.
Foto:
©Verleih
Info:
Buch und Regie. Victor Kossakovsky
Bildgestaltung. Ben Bernhard / BVK
Ton. Alexander Dudarev
Originalmusik. Evgueni Galperine
Montage Victor Kossakovsky, Ainara Vera
Abdruck aus dem Presseheft