Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 7. November 2024, Teil 1
Julien Sévéon
Berlin (Weltexpresso) - 2016 entdeckte und erkannte ein Fan kistenweise unbekannte Filmrollen. Seitdem überschlugen sich die Gerüchte, was wohl aus diesem Material werden würde. Was ist zwischen 2016 und heute passiert?
Hier haben wir es wieder mit einem Mythos zu tun. Es war nicht wirklich so, dass man irgendwo Kisten gefunden hätte. Es war eher wie das Paar Schuhe, das man im Schrank liegen, aber vergessen hat.
Es gab auch die Geschichte, dass ein ehemaliger Eigentümer des „Penthouse“ den Film vernichten wollte. Auch das stimmt nicht, ist aber eine gute Geschichte. Bob Guccione hatte behauptet, den Film nach New York geschmuggelt zu haben, indem er sich die Rollen um die Arme gewickelt hatte. Wir reden hier von einem LKW voller Filmrollen! Wie viele Leute und wie viele Trips würde man bitte dafür brauchen? Stimmt also auch nicht, hört sich aber gut an!
In Wahrheit wussten die Leute von „Penthouse“, dass der Film da war. Aber es war allen egal. Die Firma hatte sich mehr und mehr in Richtung reiner Pornografie entwickelt und hatte mehrfach die Eigentümer gewechselt. Während er also an der „Imperial Edition“ auf Blu-ray arbeitete, schickte man Nathaniel Thompson ins Lager, gab ihm jedoch nur zwei Stunden Zeit.
Also schnappte er sich alle Filmrollen, die er tragen konnte, und dieses Material landete auf der alten Blu-ray. Und dann, ... es ist kompliziert für mich, zu erzählen, was wirklich passiert ist, weil die Geschichte einige Leute schlecht dastehen lassen könnte. Außerdem will ich nicht derjenige sein, der mit dem Finger auf andere zeigt.
In Wahrheit lag es am schlechten Management und erst der neue Besitzer von „Penthouse“ ermöglichte das Projekt überhaupt. Eine Management-Firma in New Orleans hatte großes Interesse daran, sich die Hände schmutzig zu machen und herauszufinden, was sich alles in ihrem Besitz befand. Vielleicht gab es ja etwas Lohnendes.
Als ich mich auf die Suche nach Leuten machte, die mir bei diesem Projekt helfen konnten, waren es weit weniger, als ich gedacht hätte. Ich las die Geschichte, dass es „Penthouse“ zerstört hätte und dass unser Investor all sein Geld in die Scans der Filmrollen investiert hätte. Das war alles erfunden, die wahre Geschichte war einfach irgendeine Konzernscheiße. Die Geschichte ist total langweilig, denn es ging nur um einen Konzern, der Material fürs Streaming rumliegen hatte. Niemanden interessierte es.
Dann wechselte mehrfach der Eigentümer, wobei der letzte Eigentümer eine Management-Firma in New Orleans engagierte, die mich schließlich kontaktierte. Die sagten im Grunde: „Das Zeug gehört uns, willst du es dir mal ansehen? Ist es gut?“ Ich fuhr hin und fühlte mich wie bei „Jäger des verlorenen Schatzes“, bei all den staubigen, unbezahlbaren Reichtümern.
Ich bin ein Fan von Malcom McDowell, hatte „Caligula“ aber nie gesehen, weil er mir sagte, ich solle es lassen. Aber ich kannte die Geschichten, dass es ein ernstgemeinter Film war. Ich saß also vor einem Haufen staubiger, dreckiger Kisten. Ich dachte nur: „Woran kann ich mich hier festketten, damit das nicht wieder für 40 Jahre im Archiv verschwindet?“ Ich machte ihnen einen Vorschlag, und sie akzeptierten.
In welchem Zustand befanden sich die Negative, als du sie entdeckt hast?
Sie waren in makellosem Zustand. Ich war schockiert. Keine der Chemikalien hatte sich zersetzt. Sieht man sich eine alte DVD von „Caligula“ mit all den Haaren und Kratzern darauf an, könnte man denken, dass es am schlechten Zustand des Materials lag. Doch es lag an den Kameranegativen. Offenbar hatte man das Filmfenster beim Dreh nie kontrolliert und so sieht man Insekten auf den Negativen, weil diese tot in der Kamera lagen. Es war also seltsam, makellose Negative zu haben, die so schmutzig waren. Wir begannen mit einer Bild-für-Bild-Restauration und nun ist alles makellos. Aber es war ein riesiger Haufen Arbeit.
Hast du versucht, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen, die damals am Film beteiligt waren?
Mein ursprünglicher Gedanke war: „Warum sollen wir nicht alle zusammenarbeiten?“ Aber es hat einfach nicht funktioniert. Meine ersten E-Mails schickte ich an Tinto Brass, erfuhr jedoch erst acht Monate später, dass er meine Nachrichten zwar erhalten hatte, mich jedoch schlicht ignorierte, weil es um „Caligula“ ging.
Schließlich sagten seine Frau und sein Anwalt, dass Tinto mit daran arbeiten würde. Dann sah ich jedoch eine Dokumentation, in der es hieß, Tinto wäre dement. Ich willigte zwar in ihre Bedingungen ein, bat jedoch darum, mit Tinto zu sprechen. Sie lehnten ab. Ich sagte: „Ich verstehe das, „Caligula“ war eine grauenhafte Erfahrung, aber wenn wir euch schon bezahlen, will ich mit ihm reden.“ Erneut lehnten sie ab und die Verhandlungen waren beendet.
Meine zweite Mail ging an das Management von Malcolm McDowell. Ich schrieb, dass er am Projekt mitwirken sollte, bekam jedoch keine Antwort. Je tiefer ich in die Materie eindrang, desto mehr verstand ich, wie brutal es für alle gewesen sein muss. In einem Interview sagte McDowell: „Ich weiß, wie es sich für eine Frau anfühlt, vergewaltigt zu werden.“ Ich trat einen Schritt zurück und erkannte, dass ich alles von einem neutralen Standpunkt aus betrachtete. Alle anderen konnten das jedoch nicht.
Ich erkannte, dass der Film nie einen echten Produzenten hatte. Du kannst nicht Tinto Brass gerecht werden, oder Bob Guccione. Du musst den Schauspielern gerecht werden. Wer auch immer sich in der Chefetage prügelt, steht nicht vor der Kamera. Also wollte ich eine Struktur schaffen, die Malcolm McDowells schauspielerische Leistung unterstützte.
Bob Guccione war zwar kein typischer Produzent, aber mit Jack Silverman und Franco Rossellini, Roberto Rossellinis Neffen, gab es ja zwei Produzenten am Set.
Jack Silverman kam aus Amerika, von New Yorks Bühnen und aus Hollywood-Filmen. Und einen Tinto Brass, der Oralsex mit einer Schauspielerin hatte, um zu zeigen, wie es ging, gab es einfach nicht in seiner Welt. Als der Dreh abgeschlossen war, hatte er sich mental komplett verabschiedet. Es war einfach zu verrückt für ihn. Doch zu Tintos Verteidigung: Er war ein Künstler und ein Verrückter. Ich denke, keiner der Beteiligten konnte diese Brücke zu ihm schlagen. Bob Guccione war berüchtigt dafür, schwierig zu sein. Ebenso wie Gore Vidal und Tinto Brass. Silverman und Rossellini waren beide nette Kerle, die nicht in diesen Mahlstrom geraten wollten. Das Verbrechen war es, dass es niemanden gab, der sie zur Zusammenarbeit bringen konnte. Niemand hat gesagt: „Gore, du bist ein großartiger Autor! Malcolm hat eine sehr gute Idee, vergiss mal dein Ego und hör ihm zu!“
Bob hatte ein unglaubliches Gespür für Marketing, und das mit Erfolg: Wir reden noch 40 Jahre später über den Film. Ich denke, Tinto kam mit dem großen Budget nicht zurecht und fühlte sich bei kleineren Filmen künstlerisch einfach besser aufgehoben. Sicherlich hatte er viel zu bieten, der Film laugte ihn jedoch aus. Bei Bob war es mit Sicherheit so, denn er hat nie wieder einen Film gedreht.
Über Jahre gab es Gerüchte und Fantasien über einen „Tinto Brass Caligula“, also eine Neufassung nach der Vision des Regisseurs. Das war nicht dein Ziel?
Ich kam zu diesem Film, weil ich ein Fan von Tinto Brass bin. Als wir fertig waren, war aber der Cutter nicht mehr ein so großer Fan von ihm, weil Kameras unscharf waren oder jemand bei einer schönen Zeitlupe gegen das Dreibein gestoßen war. Der Film fühlte sich oft recht amateurhaft an. Niemand hatte das Bildfenster überprüft, also gibt es immer Dreck auf den Negativen. Doch wir konnten durch die technischen Einschränkungen, die Beschränkungen dessen, was gedreht worden ist und die unfertigen Kulissen hindurchnavigieren. Das Wichtigste war es jedoch, dass die Schauspieler zur Stelle waren, um kraftvolle Darstellungen abzuliefern. Und das haben sie gemacht.
Ich glaube, Tintos Fassung wäre erschienen und in Vergessenheit geraten. Sie wäre unsinnig und blöde dahergekommen und als Randnotiz der Geschichte geendet. Damals wurde ein wunderschöner Film gedreht, aber die Hauptakteure haben einander gehasst. Ein guter Produzent hätte zu Bob gesagt: „Halte dich verdammt nochmal zurück und mach hier nicht alle wahnsinnig!“ Ich hätte Tinto gesagt, dass dieser Kerl sein Geld investiert, damit er etwas Wunderschönes erschaffen kann, dass nicht total beschissen reaktionär ist.
Ich respektierte die Tatsache, dass die Schauspieler an dem ganzen Drama nicht beteiligt waren. Diese Schnittfassung ist also für die Schauspieler. Und selbst wenn man den Film hasst, ist es ein Geschenk und die Zeit absolut wert, eine zuvor nie gesehene Darstellung von Helen Mirren aus dem Jahre 1976 zu sehen. Sie war außergewöhnlich und warum sollte man diese junge, schöne Schauspielerin zu Beginn ihrer Karriere nicht sehen wollen? Selbst Bob Guccione hat gesagt, dass sie für ihn der wahre Star des Films war. Er hat das damals bereits erkannt.
Außerdem ist es für mich Malcolm McDowells bestes Spiel. Er war als Schauspieler in Höchstform, wurde jedoch alleingelassen. Für diese Rolle musste er härter arbeiten als für andere Rollen. Ich liebe „Uhrwerk Orange“, der ohne Frage ein großartiger Film ist, aber hier war er so kraftvoll, weil er sich auf den Erzählbogen der Figur voll konzentrierte.
Ich habe all das Material schon so oft gesehen, etwa 90 Stunden unbekannter Aufnahmen: Niemand bringt mehr Herzblut in den Film ein als Malcolm McDowell, mehr als Tinto Brass oder Bob Guccione. Er hat auch angemerkt, dass Gore Vidals Drehbuch sehr eindimensional war. Caligula war einfach nur verrückt und das ist langweilig für einen Schauspieler. Er und Tinto einigten sich darauf, dass sich die Figur entwickeln müsse. Diese Entwicklung fehlt jedoch im Originalfilm, da ist er einfach nur verrückt.
Nun erfahren wir es im ersten Drittel: Er ist ein verängstigter junger Mann. Er ist nicht verrückt, er ist ein Überlebenskünstler, doch er weiß, dass Tiberius ihn tot sehen will. Dieser hat seine gesamte Familie ermordet und als einziger Fels bleibt ihm seine Schwester. Dadurch bekommt nicht nur der Inzest mehr Kontext, in der ersten Stunde fühlen wir auch mit ihm, weil er weiß, dass er jeden Moment sterben könnte.
In der zweiten Stunde kommt er an die Macht, was sich Gore Vidal vorgestellt hatte, wie ein Kind, das sein Spielzeug kaputtmacht, weil es keinerlei Disziplin hat. Der Tod seiner Schwester reißt ihn schließlich völlig aus der Realität. Der einzige Mensch, dem er noch vertrauen konnte, ist fort. Da er absolute Macht besitzt, keinerlei Disziplin und von der Realität völlig entkoppelt ist, wird er wahnsinnig.
Das ist jedoch nicht Tinto geschuldet, sondern Malcolm. Und wir sehen einen derart derben und verletzten Malcolm, dass ich es nun verstanden habe. Nicht nur stimmte etwas mit dem Film nicht, in dem er mitgespielt hatte. Auch hatte er in einem Film gespielt, den niemand je zu sehen bekam.
In deiner Version gibt es weit weniger Blut und Sex als im Original. Auch gibt es keine pornografischen Szenen. Warum hast du dich dazu entschieden, diese Aspekte zurückzuschrauben?
Wir haben nichts zensiert, haben aber auch nichts nur des Schocks wegen hinzugefügt. Es gibt keine Welt, in der dieser Film für jemanden unter 18 Jahren geeignet wäre, er ist immer noch in vielerlei Hinsicht sehr erschreckend, was die Brutalität angeht. Doch in der ersten Version ging es nur darum, zu schockieren. So war etwa die Orgien-Szene ganze 12 Minuten lang. Das muss sie aber nicht sein. Man weiß, dass es eine Orgie ist, und es gibt reichlich nackte Haut und Blut. Die Frage war aber: Wollten wir einen völlig unnötigen Witz aus der Sache machen, oder die Geschichte voranbringen? Wir hatten immer die Erzählung von „Caligula“ im Blick und alles, was am Original wirklich interessant war, ist noch immer drin. Noch immer gibt es die dreistöckige Enthauptungsmaschine, ebenso die Fisting-Szene. Wenn man die Orgie von 12 auf fünf Minuten kürzt, erzählt man eine Geschichte und blickt nicht auf die Uhr und fragt sich: „Was mache ich noch hier?“ In mancher Hinsicht ist unsere Version sogar noch beunruhigender, weil unsere Gewalt mit einer emotionalen Erzählung verbunden ist, ich denke, sie ist dadurch härter.
Welche Elemente finden sich in deiner Version, die in der Fassung von 1980 nicht zu sehen waren?
Im Original sahen wir Bestechungen, aber nicht, wie es dazu kam. Wir sahen den Tanz der Soldaten, ohne zu wissen, dass Caligula sich damit nur über sie lustig machen wollte. Auch sah man immer wieder einen Vogel, es war jedoch nicht klar, dass dieser immer dann auftauchte, wenn jemand stirbt. Am Ende des Films erkennt Caligula, dass Rom viel größer ist als er selbst, und dass er Teil eines unendlichen Spiels ist. All dies gab es in der Fassung von 1980 nicht. Es gibt eine sehr kraftvolle Szene: Im Original stieg er die Treppe zum Senat empor, dann folgte jedoch ein Schnitt auf etwas völlig anderes. Doch in unserem Material sieht man, wie er die Treppe hinaufgeht, auf der Empore steht, die römischen Siegel berührt, sich zum großen, leeren Senatssaal umdreht und zu weinen beginnt. In diesem Moment berührt der Riese, der ihn begleitet und alles tut, was er tut, sein Gesicht und beginnt ebenfalls, zu weinen. Ihm wird bewusst, dass er sterben wird, er weiß jedoch, dass das Imperium fortbestehen wird. Er ist Teil des Kreislaufs, der in der Eröffnungssequenz gezeigt werden sollte, die nie gedreht worden ist. Diese zeigen wir nun als Animation. Es gibt viele wiederkehrende Elemente, darunter der Vogel. Als Caligula den Vogel zum ersten Mal sieht, dreht er durch. Denn dieser Vogel verkündete Tiberius‘ Tod. Der zweite Vogel versetzt ihn in Panik, weil er weiß, dass er den Tod bedeutet. Dann stirbt seine Schwester. Beim Erscheinen des dritten Vogels dreht Caesonia durch, Caligula jedoch blickt ihn nur an und atmet tief durch. In der finalen Szene gibt es ein Stück über das ewige Leben, Tod und Wiedergeburt. Das alles gab es schon, jemand musste es nur zusammenfügen. Meine Wurzeln liegen im Symbolismus des 19. Jahrhunderts, also fand ich es sehr spannend, solche starken Themen im Rohmaterial zu finden. „Caligula“ ist ein symbolhafter, dramatischer, metaphysischer Film, wie eine seltsame europäische Graphic Novel aus den 1970ern. Dieser Film zeigt nun Caligula als den allegorischen Archetypen, der mit seiner Vorstellung der Realität ins Reine kommt.
Worin bestand die größte Schwierigkeit bei der Arbeit an der neuen Fassung?
Es war wohl die Einsicht, dass das nie zuvor gemacht worden ist. Ich konnte mich an nichts orientieren. Ich kenne keinen Film, bei dem man das gesamte Rohmaterial, alle Tonspuren, einfach den gesamten Film verwendet hat. Technische Probleme lassen sich lösen, es gibt jedoch kein Handbuch dafür, wie man an so etwas herangehen muss. Als mir klar wurde, dass Leute wie Tinto und Malcolm nicht mitmachen wollten, stellte sich mir die Frage: „Wie soll ich abschätzen, was hätte passieren sollen?“
Anfangs ging ich wie ein Archäologe an die Sache heran, später wurde eine Zeitmaschine daraus. Ich musste jedes Interview anhören oder lesen, darunter haufenweise Interviews, die nie veröffentlich wurden. Bald dachte ich, ein gutes Gespür dafür zu haben, was die Hauptakteure im Sinn hatten, wollte meine Flagge in der Mitte aufstellen und mich als Vermittler versuchen.
Der Autor hasste die Kulissen, der Regisseur leitete seinen Hauptdarsteller nicht an. Malcoms Darstellung hätte mir drei mögliche Varianten erlaubt: Eine Historische, eine Stoische und diejenige, in der er so gefühlvoll und kraftvoll spielt. Für Letztere entschied ich mich.
Die meisten Beteiligten am Film sind längst verstorben, und wer noch da ist, trägt noch immer Narben mit sich herum. Man war entweder im Team Tinto oder im Team Bob, ich war jedoch neutral. Man darf auf niemanden herabschauen, der damals involviert war. Die Frage ist: Wie kannst man die Brücke zwischen all diesen Elementen schlagen, um die bestmögliche Version zu bekommen? Ob jemand mit meinen Entscheidungen einverstanden ist oder nicht, ich weiß, dass ich damit Erfolg hatte.
Die Leistung der Hauptdarsteller machte meine Aufgabe einfacher. Ich musste mich nur an Malcom halten. In der Version von 1980 gibt es eine Szene mit Peter O’Toole, Malcolm und John, von der gut die Hälfte im „Müll“ gelandet war. Ich sah mir die Szene an, lauschte diesen drei Meistern und bekam Gänsehaut. Ein Tinto-Fan würde wohl sagen: „Aber all die Verrücktheiten fehlen!“ Mir ging es jedoch nicht um ihn.
Ein Fan von Bob Guccione könnte sagen: „Warum willst du an etwas Perfektem herumbasteln?“ Ich habe nichts gegen Leute, die alte Filme lieben. Manchmal ist ein Film derart seltsam, dass er Spaß macht, auch wenn er nicht unbedingt gut ist. Ich denke, für viele Leute trifft das in Bezug auf „Caligula“ zu. Das nehme ich auch niemandem weg. Es ist wie ein Zeitportal, dass dir die Chance gibt, drei Stunden zu sehen, die du noch nie zuvor gesehen hast. Denn kein einziges Bild wurde jemals gezeigt. Manchmal nutzen wir ähnliche Kamerawinkel oder denselben Winkel aus einem anderen Take. Zum Großteil ist es jedoch ein komplett neuer Film. Was man vorher aus der Nähe gesehen hat, befindet sich nun vielleicht weit weg. Was 1980 eine Minute lang war, ist jetzt vielleicht sieben Minuten lang. Es ist wie bei „Pulp Fiction“: Die Kamera läuft weiter, und sie reden weiter. Da wir uns auf die Schauspieler konzentriert haben, gibt die neue Fassung ihnen ihre Würde zurück.
Wolltest du es unbedingt vermeiden, Bilder aus der 1980er-Version zu benutzen?
Nein, ich tat einfach so, als wäre es 1976. Als wäre ich ein Zeitreisender, der mit allen gesprochen und alle getroffen hat und Bob davon abhalten konnte, Tinto zu feuern, um pornografische Szenen zu drehen.
„Wie mache ich jetzt weiter?“ Wir taten so, als würde es diese alte Schnittfassung gar nicht geben. Wir sahen uns an, was gedreht worden war, wir sahen uns das Drehbuch an, von dem es sehr viele Versionen gab. Wir erstellten eine Liste der Audiomitschnitte, um zu erfahren, was gespielt worden war. Das alles dauerte sehr lange, doch als wir mit dem Neuschnitt begannen, wollten wir einfach die beste Version kreieren, um die Darsteller zu würdigen.
Als der Cutter die besten Aufnahmen raussuchte, sagte ich zu ihm: „Gehen wir alles durch und jeder sucht sich die Aufnahmen raus, die er gerne darin sehen möchte. Falls wir Teile aus der 1980er-Version brauchen, scannen wir einfach die 35mm-Filme ab.“ Irgendwann hatten wir rund 85% fertiggestellt und wir mussten bisher zu keinem Zeitpunkt auf Material aus dem Original zurückgreifen. Meist gab es Takes, die einfach viel besser waren. Irgendwann wurde ich nervös: „Es wäre schon echt cool, wenn wir gar kein Material von 1980 benutzen würden...“ Dann standen wir bei 90%, dann bei 95%, ich verbiss mich regelrecht in meinen Schreibtisch und dachte: „Was ist hier los?“ Es wurde so viel Material gedreht, wir haben so vieles hinzugefügt, was im Original nicht zu sehen war, dass es einfach funktionierte. Wir mussten nie auf das alte Material zurückgreifen. Auch hatten wir die Negative von damals nicht. 96 Stunden wurden gedreht, und wir hatten 93 Stunden Material. Ein Dutzend Szenen wurden erweitert und ich glaube, wir haben sieben Szenen, die es in keiner anderen Fassung gibt. Es sind Szenen, die mir sehr wichtig waren, wie das Herunterschlagen der Statuenköpfe und das wieder Aufsetzen der Köpfe. Es war also keine Absicht, doch am Ende, als es sich so ergab, waren wir uns dessen bewusst.
Über die Filmemacher
Tinto Brass: „Dreharbeiten“
Geboren im Jahre 1933 gehört Tinto Brass zu jenen Regisseuren, die in den 1960ern die italienische Filmbrache zum Beben brachten. Sein erster Spielfilm „Wer arbeitet, ist verloren” (1963) sorgte für einigen Aufruhr auf dem Filmfestival in Venedig. Vor der Kinoveröffentlichung forderten die Zensoren eine Reihe von Schnitten, Brass weigerte sich jedoch. Nach einem Regierungswechsel durfte der Director’s Cut endlich in den Kinos laufen. 1963 folgte mit „Thermidor” eine Dokumentation über die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls in Venedig gezeigt wurde.
Später widmete sich Brass den populären Genres seiner Zeit: der Komödie („Il Disco volante“, 1964), dem Western („Yankee“, 1966) und einem Giallo („Ich bin wie ich bin – Das Mädchen aus der Carnaby Street“, 1967). Dabei fügte er stets eine eigene Note und Sichtweise hinzu. Sein Drama „Attraction“ von 1968 war typisch für die damalige Zeit, für den Regisseur jedoch ungewöhnlich. 1976 erschien „Salon Kitty“, der noch heute kontrovers diskutiert wird. Er erzählt die Geschichte eines Bordells im Berlin des Nationalsozialismus.
Mit diesem Film zeigte er jedoch, dass er der richtige Mann für „Caligula“ war. Ausgezehrt vom Dreh entschied er sich, bei der Produktion seines nächsten Films „Sodom 2000“, die volle Kontrolle über die Produktion zu übernehmen.
Beginnend mit „Der Schlüssel“ (1983) konzentrierte er sich auf Erotikfilme und bereicherte das Genre um Klassiker wie „Mistress of the Inn“ (1985) und „Paprika – Ein Leben für die Liebe“ (1991).
Zwar erschien Tinto Brass bis in die 2010er hinein des Öfteren vor der Kamera, der Erotikkurzfilm „Hotel Courbet“ von 2009 markierte jedoch seine letzte Regiearbeit.
Gore Vidal Drehbuchautor
Mit seinem dritten Buch „The City and the Pillar“ erschütterte Romanautor und Essayist Gore Vidal 1948 die amerikanische Literaturszene, da der Protagonist homosexuell war. Zwar behandelten die meisten seiner Werke Themen der amerikanischen Gesellschaft, er schrieb jedoch auch historische Fiktion, wie „Julian“ von 1964, der vom römischen Kaiser Julian, dem Abtrünnigen handelte. Mitte der 1950er begann er, für Film, Fernsehen und Bühne zu schreiben, beginnend mit einer Neufassung von „Ben Hur“ 1959. Bei „Caligula“ versuchte er, die Figur und die Periode aus einem historischen Blickwinkel zu betrachten. Aufgrund der vielen Änderungen an seinem Drehbuch und der Tatsache, dass seiner Ansicht nach, der Film keinen Bezug zu seiner Arbeit hatte, wies er jedoch jegliche Beteiligung seinerseits an „Caligula“ zurück. Mit „Gore Vidals Caligula“ adaptierte William Howard dessen Drehbuch als Roman. Er verstarb 2012.
Bob Guccione Produzent
Als gelernter Maler und Designer sorgte Bob Guccione durch die Gründung des „Penthouse“-Magazins für Furore. Zunächst fotografierte er selbst die Mädchen für das Magazin, das erstmals 1965 in England und ab 1969 auch in den USA erschien. Bald sollte das Magazin die Verlagswelt erschüttern, bot es doch weit expliziteres Material als andere Männermagazine wie beispielsweise der „Playboy“. Das Magazin war ein Novum und ausgesprochen erfolgreich und brachte bald auch politische oder gesellschaftliche Artikel – und Guccione wurde zum Millionär.
Doch die immer größer werdende Verfügbarkeit von Online-Pornografie in den späten 1990ern erhöhte bald den finanziellen Druck auf das Magazin, dass 2003 schließlich Bankrott ging. Seitdem wechselte es immer wieder die Besitzer.
Bob Guccione verstarb 2010 an Krebs.