chrüüüSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Januar 2025, Teil 3

Redaktion

Paris (Weltexpresso)Was verbindet Sie mit Alexandre Dumas und insbesondere mit dem „Graf von Monte Christo“?

PN: Dumas hat mir die Literatur auf eine spielerische und zugleich tiefgründige Art nähergebracht. Es war das erste Mal, dass ich träumte, beim Lesen so sehr ergriffen wurde und ein starkes Verlangen verspürte, eine Figur zu verkörpern oder den Bildern, die seine Bücher hervorgerufen haben, Leben einzuhauchen. Die von Dumas erdachten Figuren haben eine enorme Fülle, eine Komplexität. Edmond Dantès ist fast mythisch. Ich habe nicht einmal gewagt, mir vorzustellen, irgendwann einmal in seine Rolle zu schlüpfen! Meine Generation ist auch mit „Harry Potter“ aufgewachsen, bei dem ich das gleiche Vergnügen eines spannenden Buches empfand, das gleiche Verlangen, für immer in ein Universum einzutauchen, das mich so sehr in seinen Bann gezogen hat.


Wie haben Sie reagiert, als Alexandre und Matthieu Ihnen von dem Projekt erzählt haben?

PN: Ich war etwas benommen! Plötzlich waren meine Erinnerungen an das Lesen wieder da. Und auch jene einzigartigen Emotionen, die wir bei der Lektüre eines Buches verspüren, das uns alles bedeutet, bis zu dem Punkt, an dem wir die Taschenlampe unter der Bettdecke nicht mehr weglegen können. Die Rolle des Monte Christo füllt jeden Augenblick meines Lebens aus: die Träume des kleinen Jungen, die des jungen Mannes während seiner Schauspielausbildung, die des Erwachsenen in der Comédie-Française. Für jeden Schauspieler ist die Rolle des Monte Christo ein Traum, vergleichbar mit Hamlet. Denn er muss sich mit einer Vielzahl von existenziellen Fragen auseinandersetzen: Unschuld, Ungerechtigkeit, Verrat, Reue, Rache, Gut, Böse … Aber auch über sein eigenes Handwerk: Wie spielt man verschiedene Altersstufen, nicht wiederzuerkennende Personen, Hoffnung und dann Verzweiflung, einen Mann, der für die Rache brennt und dann wieder zur Ruhe kommt? Es gibt nur sehr wenige vergleichbare Rollen.


Ihre Filmografie enthält viele Figuren, die sich hinter allen möglichen Masken verbergen.

PN: Ja, das stimmt! Aber man muss auch sagen, dass die Maske grundsätzlich sehr filmisch ist. Und einen Aspekt von sich selbst zu zeigen, der nicht der Realität entspricht, ist immer faszinierend. Von NUR DIE SONNE WAR ZEUGE von René Clément bis hin zu Filmen von David Lynch, Christopher Nolan oder Brian De Palma sind diese Täuschungsmanöver in vielen Werken zu finden. Ich wurde auch von den Filmen beeinflusst, mit denen ich aufgewachsen bin, den Filmen von Tim Burton und den Superheldenfilmen, in denen es viele Maskenspiele gibt. Das aufregendste ist das von Bruce Wayne alias Batman, das übrigens Monte Christo am nächsten kommt. Für mich ist das Wechseln der Gesichter, jemand anderes zu sein, ebenso ein Vergnügen der Kindheit wie auch generell der Schauspielerei. In DER GRAF VON MONTE CHRISTO ist es das Mittel zu seiner Rache, aber für mich als Schauspieler ist es eine faszinierende Katharsis. Ich bin auch ein Fan von Gary Oldman, Christian Bale, Brad Pitt in TWELVE MONKEYS (1995) oder BURN AFTER READING (2008), die den Zuschauerinnen und Zuschauern unglaubliche und enorme Verwandlungen bieten, die in unserer französischen Kultur vielleicht seltener sind.


Noch vor dem Auftritt des Grafen und seiner Inkarnationen gibt es mehrere Versionen von Edmond Dantès: der glückliche junge Mann am Anfang, der Gefangene von Château d'If, der entflohene Häftling … In welche Variante konnten Sie sich am besten hineinversetzen?

PN: Dantès ist eine Summe seiner Teile. Der jüngere und unbekümmerte Dantès am Anfang geht über in den christusähnlichen Dantès, der das Gefängnis überlebt, und dieser wiederum in den vierzigjährigen Dantès, der zwar frei, aber von körperlichen und seelischen Narben gezeichnet ist. Der eine ersetzt den anderen nicht, sie addieren sich, und das ist es, was es so schmerzhaft macht. Jeder Dantès trägt den vorherigen Dantès in sich und versinkt in der seelischen Düsterkeit. Wie in der Mythologie und in der Tragödie, wo die Götter beschließen, mit einem Menschen zu spielen, ihn in den Wahnsinn zu treiben und auf ihn zu zeigen, ist Dantès dazu bestimmt, das Ungerechteste und Dunkelste zu erleben, was die Welt einem Menschen bieten kann. Ich habe sie alle gerne gespielt, aber die Sequenzen im Gefängnis waren besonders stark. Wir haben in eigens für den Film gebauten Tunneln gedreht, wo der Platz sehr begrenzt war und ich mir den ganzen Tag die Knie und Ellbogen aufschürfte. Diese Enge half mir, seine
Verzweiflung zu vermitteln. Die Begegnung mit dem Abbé Faria, als der Wahnsinn über Dantès hereinbricht, fand ich überwältigend. Das erste Erblicken musste wie eine Halluzination sein, fast animalisch, um das unermessliche Glück zu beschreiben, das die beiden empfinden, als sie auf einen Mitmenschen treffen, ihn sehen, ihn berühren.


Wie haben Alexandre und Matthieu Ihnen bei der Entwicklung von Monte Christo und seinen falschen Identitäten geholfen?

PN: Ich habe viel allein gearbeitet, bevor ich mich regelmäßig mit ihnen zu langen Maskensitzungen traf. Wir hatten mindestens vier Sessions für Monte Christo und zwei für seinen Haupt-Inkarnation. Bei diesen Treffen konnten wir uns über das Aussehen der Figuren austauschen: Sollten sie mehr oder weniger Falten haben, gruseliger oder weniger gruselig aussehen? Dabei sprachen wir bereits viel darüber, wie wir uns die Figuren vorstellen. Es ist das erste Mal, dass Regisseure den Roman adaptieren, indem sie das Aussehen von Monte Christo weitgehend verändern. Das erschien uns in der heutigen Zeit für die Glaubwürdigkeit des Films unerlässlich. Unter diesen Inkarnationen ist eine überschwängliche Figur, die im Gegensatz zu Dantès steht und Monte Christos zynisches Vergnügen daran unterstreicht, seine Feinde zu täuschen. Man spürt die Hybris in ihm. Sein Vergnügen beruht auch auf der Idee, dass die Laster seiner Feinde sie so weit blenden, dass sie nicht mehr vorsichtig genug sind. Das Tolle ist, dass
es auch bei vielen Zuschauerinnen und Zuschauern funktioniert. Zumindest für ein paar Momente. Das ist es, was wir beabsichtigt haben. Diese Verstörung. Um ehrlich zu sein … meine Eltern haben mich nicht wiedererkannt, als sie die betreffende Sequenz sahen. Was Monte Christo selbst betrifft, musste ich einen anderen Rhythmus finden als den, den ich für Dantès vorgeschlagen hatte, um zu vermitteln, dass es sich nicht um dieselbe Person handelt, die unschuldig ins Gefängnis geht und siebzehn Jahre später als reichster Mann der Welt wieder auftaucht. Es war notwendig, die Aura, das Charisma zu finden, um zu verdeutlichen, wie dieser Graf auf seine Gesprächspartner Eindruck macht. Ziemlich schnell neigte ich zu einer Form der Strenge, der Sparsamkeit bei den Bewegungen, selbst beim Blinzeln mit den Augen, ganz anders als meine eigentliche Natur. Ich habe Alexandre und Matthieu auch dazu gebracht, andereStimmen zu hören: tiefere, dramatischere. Es gab keine langen Debatten, weil sie eine
gemeinsame und entscheidende Meinung hatten. Die Vorbereitung war daher faszinierend, weil sie sehr konkret war. Theorie macht mich unruhig, ich bevorzuge die Praxis.


Monte Christo ist ein gebrandmarkter Mann, der sich rächen will. Verstehen Sie diese Düsternis, die bis zur äußersten Grausamkeit geht? Gibt es auch eine heitere Seite?

PN: Ich habe diese Düsternis geliebt. Ich sagte Matthieu und Alexandre immer wieder, dass wir die Dunkelheit annehmen müssen. Die Filme und Serien der letzten Jahre haben das Publikum darauf vorbereitet, in solche Schatten einzutauchen. Es war wichtig, sie nicht zu beschönigen. Wir mussten erforschen, wie düster die menschliche Seele sein kann, wenn man nicht mehr an die Gerechtigkeit, an die Liebe, an die Freundschaft glaubt. Und es fühlte sich gut an, dass wir Tag für Tag diese Dunkelheit erforscht haben. Sie mündet in eine Form von Wahnsinn, während sie gleichzeitig von sehr rationalen Fragen geleitet wird: Wie soll ich mich rächen? Soll ich alles geschehen lassen? Ist das, was die Moral mir verbietet, genau das, was ich tun muss? Natürlich kann Rache auch Spaß machen. Viele amerikanische Filme basieren auf der Geschichte eines guten Mannes, der von einem bösen Mann schikaniert wird, bevor er zeigt, wie der Gute die Situation umkehrt und es ihm gelingt, uns, den Zuschauern, die Freude an der wiederhergestellten Gerechtigkeit zu bereiten. Das ist die Formel von Clint Eastwood, von allen Western und sogar von vielen Filmen, die keine Genrefilme sind. Aber um Rache zu üben, muss man gelitten haben.

In den Augen des Publikums ist es das Leiden des Protagonisten, das seine Rache rechtfertigt. Sonst ist es nur Sadismus, und das funktioniert nicht mehr. Das Faszinierende ist, dass sich dieses Kinothema mit einem Thema unseres Lebens überschneidet, denn so gut wir auch sein wollen, Rache ist immer eine Option, auch wenn sie nicht im selben Maße wie bei Dantès stattfindet. Der Film stellt dem Publikum daher ständig die Frage, wie weit man gehen würde, wo man moralisch steht, wann die Monstrosität ihr Haupt erhebt, wann wir vom Menschen zum Monster werden. Es ist diese faszinierende philosophische Frage, die im Zentrum des Werks steht und unsere eigene Schattenseite erkundet. Wenn ich, wie Dantès, von meinen Freunden, meiner Gerechtigkeit, meinem Land in diesem Ausmaß verraten würde und mir die Mittel zur Rache zur Verfügung stünden, kann ich nicht versprechen, dass ich nicht auch darauf aus wäre. 


Im Film gibt es einen sehr starken Moment, in dem Monte Christo wie ein rebellischer Engel beschließt, den Platz Gottes einzunehmen.

PN: Monte Christo macht es sich tatsächlich zur Aufgabe, in Gottes Fußstapfen zu treten und für Gerechtigkeit zu sorgen, weil er das Gefühl hat, dass die Rechnung nicht aufgeht. Das ist in meinen Augen die Argumentation des Films. Um es auf den Punkt zu bringen, habe ich Matthieu und Alexandre sogar den Satz vorgeschlagen: „Von nun an bin ich es, der belohnt, und ich bin es, der bestraft.“ Monte Christo tritt an die Stelle Gottes, um eine Anomalie zu korrigieren. Deshalb ähnelt er auch Superhelden wie in der Serie „The Boys“ (2019–), deren Hybris sehr ausgeprägt ist. Superhelden, ob gut oder böse, mit besonderen Kräften kommen häufig vor, wohingegen diejenigen mit finanziellen oder intellektuellen Kräften, die überzeugt sind, Gutes zu tun, obwohl sie Böses tun, oft vergessen werden. Ich finde es spannend, diese in den Mittelpunkt zu rücken, jetzt, wo wir Marvel und deren Bösewichte, die den Planeten in die Luft jagen wollen, hinter uns lassen. Vielleicht ist das der Grund für das Comeback von DER GRAF VON MONTE CHRISTO.
 

Ihre Rolle ist eine sehr physische. Wie sah Ihre Vorbereitung aus?

PN: Das erste Training war Geduld! Während der zweieinhalbmonatigen Dreharbeiten saß ich 150 Stunden auf einem Stuhl, um mich schminken zu lassen, die Nacharbeiten am Set nicht mitgerechnet. Jede Verwandlung dauerte zwischen vier und sechs Stunden … Noch dazu bin ich noch nie in einem Film geritten, also habe ich ein Reittraining absolviert. Ich nahm auch Fechtunterricht, vor allem mit Bastien Bouillon, der Fernand de Morcerf spielt, damit wir uns nicht gleich in der ersten Minute gegenseitig ins Auge stechen! Ich arbeitete bei diesem Kampf eng mit den Stuntdoubles zusammen, sodass der Kampf ziemlich sauber beginnt und immer wütender wird, mit organischeren, brutaleren Schlägen. Um der Fluchtszene Glaubwürdigkeit zu verleihen, habe ich bei Stéphane Mifsud, dem Weltmeister der statischen Apnoe (Anm.: ein willentliches Anhalten der Atmung), Apnoe-Unterricht genommen, um die Szene mit dem sinkenden Sack durchgehend spielen konnte. Das war wahrscheinlich die beängstigendste und aufreibendste Herausforderung des Films. In einem beschwerten Sack in 15 Meter Tiefe gefesselt zu sein. Es gab einen Moment, in dem ich zu mir sagte: „Ist das wirklich vernünftig?“ Die erste Reaktion von
Pathé war: „Versichern Sie uns: Sie haben das Pierre doch nicht wirklich angetan, oder?“


Die Fluchtszene ist in der Tat extrem spannend. Man hat das beklemmende Gefühl, dass Sie vor aller Augen ertrinken …

PN: Ich habe es beinahe selbst geglaubt, als sich die Bänder des Leichentuches, in das ich eingewickelt war, nicht mit einem Zug öffnen ließen … Ich war es aber auch, der darauf bestand, sie ordentlich zusammenzubinden! Ich wollte nachvollziehen, wie sich Edmond Dantès abmüht und diese Art „Auferstehung des Lazarus“, der aus seinem Leichentuch herauskommt, selbst erleben. Also lernte ich von Stéphane die Apnoe-Technik. Das war eine besondere Erfahrung. Ich habe derartige Faszination für Apnoe entwickelt, dass ich die Technik sogar am Set zwischen den Aufnahmen übte.


Wie war die Zusammenarbeit mit den anderen Schauspielkolleginnen und -kollegen?

PN: Ich fand die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler, die ich noch nicht kannte, fabelhaft. Vassili, Julien und Anamaria waren unglaublich inspirierend und sehr engagiert. Ihre Motivation, ihre Energie regten mich ständig an. Was die „Bösen“ angeht, so kenne ich Bastien (Fernand de Morcerf) seit dem Schauspielunterricht bei Cours Florent. Er ist sehr kreativ und spontan, die ideale Mischung für einen „guten“ Schurken. Patrick Mille hat seiner Filmfigur Danglars eine allumfassende Selbstgefälligkeit verliehen. Man möchte ihn so lange wie möglich hassen. Laurent ist in seiner Rolle als Villefort intelligent, taktisch und bedacht, wie wir ihn aus dem Roman kennen, aber er erweitert dessen emotionales Repertoire, wenn Villefort bemerkt, dass er von seinen Verbrechen eingeholt wird. Von Anaïs bin ich schon hin und weg, seit ich an ihrer Seite in SAUVER OU PÉRIR (2018) spielte. Ich glaube, es gibt nur wenige Schauspielerinnen, die mich so sehr berühren. In der letzten Szene zwischen Monte Christo und Mercédès hätte ich nicht erwartet, derart ergriffen zu werden. Die Einfachheit, die Natürlichkeit, mit der sie die Dinge benennt, ihre Art, Dumas wie Poesie klingen zu lassen, berührte mich. Ich könnte alle meine
Filme mit ihr machen!


Wie verstehen Sie das Ende von Monte Christos Rache? Ist es echte Vergebung, das Produkt der Liebe zu Mercédès, vielleicht die Sehnsucht nach einer verlorenen Reinheit?

PN: Ich habe die Antwort nicht. Vielleicht ein bisschen von all dem. Ich bin überzeugt, dass jeder darin sehen kann, was er will. Die Zuschauer müssen sich fragen: „Ist es aufrichtig oder ist es ein verzweifelter Versuch seinerseits, der darauf abzielt, durch die Abkapselung von seiner eigenen Gewalt noch mehr zu leiden? Ist Monte Christo am Ende wirklich von etwas befreit?“ Vielleicht ist er dazu verdammt, umherzuziehen. Ich finde dieses ziellose Wandeln schön. Weil es tragisch ist, und es gibt nichts Schöneres als die Tragödie. Vielleicht ist es eine Art Erleichterung? Aber auf jeden Fall eine geisterhafte Dimension, die ich ebenso schrecklich wie schön finde.

Foto:
©Verleih

Info:
Der Graf von Monte Christo (Frankreich, Belgien 2024)
Originaltitel: Le Comte de Monte-Cristo
Genre: Historiendrama, Literaturverfilmung, Abenteuer
Filmlänge: ca. 178 Min.
Regie: Matthieu Delaporte, Alexandre De La Patellière
Drehbuch: Matthieu Delaporte, Alexandre De La Patellière
nach dem ein Abenteuer- und Fortsetzungsroman von Alexandre Dumas dem Älteren. (1844 – 1846)
Darsteller: Pierre Niney, Bastien Bouillon, Anaïs Demoustier, Anamaria Vartolomei, Laurent Lafitte, Pierfrancesco Favino, Patrick Mille, Vassili Schneider, Julien de Saint Jean, Julie de Bona, Adèle Simphal, Stéphane Varupenne, Bruno Raffaeli, Bernard Blancan u.a.
Verleih: capelight pictures
Vertrieb: Central Film
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 23.01.2025