DAS RADIKAL BÖSE von Stefan Ruzowitzky im naxos.Kino Frankfurt, Teil 1
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine aufregende Reihe veranstaltet Wolf Lindner, Betreiber des Kinos in Frankfurts herrlichen Naxos Halle, einem Überbleibsel der faszinierenden Backsteinindustriearchitektur Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis September lautet die jeweils dienstags laufende Filmreihe „überLeben“; es gibt einen Dokumentarfilm & anschließendes Gespräch.
Begonnen hat die Reihe am 29. Juli mit FOLGE DEM REGENBOGEN NACH FINDHORN von Markus Werner. Am 5. August folgte DAS RADIKAL BÖSE von Stefan Ruzowitzky. Wir hatten den Film schon einmal gesehen und beim Anlaufen des Films in den Kinos am 16. Januar 2014 besprochen– bitte nutzen Sie den Link zum Artikel unten. Es geht um ein filmisches Erinnern an die Verbrechen, an das Abschlachten von rund 2 Millionen Menschen, die allermeisten Juden, in Osteuropa, die von deutschen Einsatzgruppen und Polizeikräften ermordet wurden, nachdem die Wehrmacht – erst einmal militärisch erfolgreich - gen Osten weitermarschiert war. Sie lesen richtig. Hier ging es nicht mehr um Krieg, sondern um die Ermordung von Zivilisten: Männer, Frauen, Kinder.
DAS RADIKAL BÖSE gehört zu der Art von Filmen, bei deren Betrachtung einem jeweils etwas ganz neu erscheint, weil man die Aufmerksamkeit – da man die Haupthandlung kennt – auf anderes richtet. So ging es uns diesmal sogar mit der Struktur des Films, die der Österreicher Stefan Ruzowitzky – bekannt vor allem durch seine 2008 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichneten DIE FÄLSCHER – in einer kühnen Koppelung durch Nachspielen von Tagebucheinträgen, Briefen und Dokumenten wie Gerichtsprotokollen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen aus der Aggressionsforschung, die konkret in Experimenten untersucht, wie weit 'normale' Menschen gehen, wenn man sie in ein Umfeld von Haß oder auch Selbstverteidigung versetzt, herstellt. Dazu gleich mehr. Mit den Spielszenen und wissenschaftlichen Versuchsanordnungen besetzen die dritte Filmebene Kommentatoren wie Benjamin Ferencz, der heute alte, damals junge amerikanische Ankläger aus den Nürnberger Prozessen und der französische Priester Patrick Desbois.
Für uns war das „Neue“ im Film also nicht, daß diese Experimente – allesamt aus dem angelsächsischen Raum und wissenschaftlich abgesichert – im Film vorkamen, sondern, welche Bedeutung sie beim zweiten Zusehen erlangen, weil, wie gesagt, beim ersten Mal der Schock über diese so normal erscheinenden Männer der Einsatzgruppen beim brutalen Morden einen überwältigt. Wir schrieben damals: „Wir haben also auf einen Schlag mit sehr vielen Personen, Biographien, Schicksalen – Täter und Opfer – zu tun und mit psychologisch und psychoanalytisch geschulten Helfern, also denen, die erklären sollen, wie auch einem 25jährigen Vater - der zu Hause gerade sein drittes Kind gezeugt hatte und von der Mama einen neu gestrickten Pullover ins Feld mitbekam und von der Frau einen Kuchen, von den Kindern selbstgemalte Bilder - , wie aus so einem normalen Familienvater ein Massenmörder wird.“
Denn das war die Absicht des Regisseurs, der fragt: „Wie werden aus ganz normalen jungen Männern Massenmörder? Warum töten ehrbare Familienväter Tag für Tag, jahrelang Frauen, Kinder und Babys? Warum verweigerten so wenige den Befehle, obwohl es ihnen freigestellt war? Wir befanden damals, daß wir derartige Verbrechen nie nie nie verstehen werden, uns eine psychoanalytische Deutung der Verbrecher darum auch nie erreichen und reichen wird, und fanden jetzt beim zweiten Schauen etwas ganz anderes wichtig: Das Radikal Böse wird nicht erklärt, kann ja auch nicht erklärt werden, aber mit Hilfe der wissenschaftlichen Aussagen ergibt sich ein Funke Hoffnung, was Gesellschaften tun können, damit zumindest die aus dem Gruppendruck heraus agierenden Mitmacher, die Mitläufer, anderen Sinnes werden, wenn von ihnen, von oben, von der Gruppe, von einer Autorität menschenfeindliche Handlungen verlangt werden, die sie eigentlich gar nicht wollen. Fortsetzung folgt.
Foto: Der Regisseur Stefan Ruzowitzky vor dem Filmplakat
INFO:
Die dienstägliche derzeitige Filmreihe „überLeben“ können Sie unter www.naxos-kino.org verfolgen. Die nächste Vorstellung ist übermorgen, Dienstag, 19. August 2014 um 19.30 Uhr: MÜNCHEN 1970 – ALS DER TERROR ZU UNS KAM, ein Film von Georg M. Hafner
Unsere Filmbesprechung zu DAS RADIKAL BÖSE: http://weltexpresso.tj87.de/index.php/kino/2446-das-radikal-boese