202511176 1 RWD 1780Die 75. Internationalen Filmfestspiele, BERLINALE 2025, Wettbewerb Teil 20


Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Es sieht so aus, als würden die Filmemacher von „Cache“ (Versteck) die Lektüre des gleichnamigen Buches von Christophe Boltanski voraussetzen. Der Autor ist der Neffe des berühmten bildenden Künstlers Christian Boltanski.


In einem edlen französischen Anwesen mit abgeschlossenem Hof, in einem reichen Pariser Arrondissement, beginnt und spielt seine eigene Familiengeschichte während der französischen Revolte im Mai 1968. 

Anfangs herrscht ein fürchterliches Gewimmel, erst zum Ende des Filmes erschließen sich die Verwandtschaftsbeziehungen der Akteure. Daher machen wir hier zunächst mal eine Familienaufstellung. Im Film sieht ein kleiner Neunjähriger die Familie (meist) aus seiner Perspektive. Seine Eltern machen Revolution, deshalb ist er einige Tage in der Großfamilie. Hier leben seine zwei lebenslustigen, scharfzüngigen Onkel, einer ist Maler, einer Intellektueller. Von seinen Eltern erfahren wir nichts, sie sind an der Front. Die zentralen Figuren sind sein Opa, ein jüdischer Mediziner, und seine Oma, eine Journalistin, die kraftvoll die ganze Familie beherrscht. Darüber schwebt die abgehobene Uroma aus Odessa, die meist oben im Bett liegt, ziemlich laute Musik von Prokofjew und Rimski-Korsakow hört und von alten Zeiten schwärmt.

Wir erleben, was die einzelnen Familienmitglieder während des Pariser Mais so alles machen. Ziemlich humorvoll wird erzählt, wie die Großmutter mit ihrem Künstlersohn illegal Plakate zur Vernissage seiner Ausstellung zwischen die Losungen der Studenten klebt. „Verbietet verbieten“ oder „Die Fantasie an die Macht.“ Großvater, der Arzt, behandelt eine leicht abgedrehte ältere Patientin, die mit einem Löffel im Hintern herumläuft. Das soll die Strahlen umleiten, die durch den Genuss von metallhaltiger Nahrung entstehen. Immer wieder flammen heftige Familiendispute über die Studenten auf, im Großen und Ganzen sympathisiert die Familie aber mit ihnen, allerdings nicht aktiv. 

Jenseits des umfriedeten Hauses toben die 68er-Schlachten, Rauch und Tränengas drängt manchmal unter dem Hoftor hervor. „C'est les boches“, schimpft die Uroma, die Oma schleppt alte Gasmasken herbei. Frankreich wird von Streiks lahmgelegt, am nächsten Tag macht sie Interviews mit streikbrecherischen Arbeitern. Währenddessen sitzt der Opa mit anderen, bourgeoisen Kollegen in einem Edelrestaurant. Als die Flics bis hierher einen Studenten verfolgen, flüchtet der Arzt unter den Tisch. Der kleine Junge braucht neue Kleidung, die Uroma hat eine große Sammlung, er sucht sich eine Kinderjacke mit Judenstern aus.

Ende Mai flüchtet General de Gaulle in die Boltanski-Familie und findet dort Zuflucht in einem winzigen Versteck, dem la Cache, worin der jüdische Großvater einst die Nazis überlebte. Mit einer Rückblende in das Jahr 1943 wird deutlich, warum er im Restaurant unter den Tisch krabbelte. Dann erscheinen Polizisten im Haus in der Gegenwart, ist es eine Traumszene? Sie wollen sich umschauen und die Familie beschmeißt sie mit Bettwäsche, Kleidung, Büchern und anderen Dingen: „Das habt ihr doch vor 25 Jahren auch so gemacht!“

General de Gaulle wird nicht gefunden, er sitzt und philosophiert mit dem Opa im Cache – aber irgendwann will er weg. „Das macht nichts“, meint der Großvater zum kleinen Jungen, „das ist mein Patient der sich für de Gaulle hält.“ Als bald darauf die Uroma stirbt, verbrennen sie den Leichnam und ihre Sachen im Hof, die Asche bringen ihr Sohn, also der Großvater, und der Junge, mit dem Auto nach Odessa. Da es kurz vor der Stadt kaputt geht, verstreuen sie die Asche zwei Kilometer vor der Stadt auf einem Hügel: „So kann sie sowohl nach Paris als auch nach Odessa sehen“, meint ihr Sohn.

Die Pressekonferenz
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Neben dem Filmteam war auch Christophe Boltanski, der Autor des Buches „La Cache“ mit in der Pressekonferenz dabei. Regisseur Lionel Baier berichtete, warum er die schwierige, weil komplexe und als unverfilmbar geltende Erzählung des Schriftstellers, als Film umzusetzen versuchte. Die Herausforderung habe ihn gereizt und indirekt wollte er etwas über den Holocaust sagen: das Buch biete für ihn Beispiele des Überlebens. Er habe mit Boltanski diskutiert und der habe ihm die völlige Freiheit für die Transformation seines Werkes in einen Film zugesichert: „Mach was du willst!“


Das Buch sei strukturlos und nicht systematisch, deswegen habe er einen „topografischen Plan“ entwickelt, jedes Kapitel habe seinen eigenen Raum bekommen. Darum lasse er – neben der erklärenden Stimme aus dem Off – auch den Jungen die Familienstrukturen erkunden. 

Schauspielerin Dominique Reymond, die Großmutter, verneint dass sie eine harte oder strenge Frau gegeben hätte. Sie habe sich an Mutter Courage orientiert, wollte mutig sein und sich einsetzen. Im Buch, also in ihrer Rolle, sei sie adoptiert worden, vielleicht hätte sie dadurch einen „Familienkokon“ schaffen wollen, den sie selber nicht hatte.

Boltanski meinte, er sei sehr überrascht gewesen, wie treu der Film dem Buch sei. Durch die Konzentration auf ’68 käme er ihm sehr nahe. Er habe seinerzeit nicht vorgehabt, das Drama der Shoah zu beschreiben, er wollte nur von der Familie, von dem Versteck und den kleinen Dingen berichten.

„Cache“ CHE, LUX, FRA 2025, 90 Minuten
Regie / Buch Lionel Baier mit Dominique Reymond, Michel Blanc, William Lebghil, Aurélien Gabrielli, Liliane Rovère

Foto
Die Familie ohne Uroma © Véronique Kolber / Berlinale
Standbild Pressekonferenz © Berlinale