
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - FLOW hat eine faszinierende traumähnliche Qualität. Wir befinden uns irgendwo zwischen Wirklichkeit und Fantasie, wie ein Traum, der im Wachzustand weitergeht und den man auch weiter erleben will. Können Sie uns mehr über diese Atmosphäre von Träumen und Alpträumen erzählen, die immer wieder in Ihren Filmen zu finden ist?
Bei AWAY wurde dies sehr bewusst eingesetzt, vor allem in den Szenen, in denen der Junge einschläft und träumt. Bei FLOW entstand diese Atmosphäre eher unabsichtlich. Aber ich vermute, das Tempo des Films und die Bildsprache können diese traumähnliche Qualität evozieren. Das finde ich großartig. Ich mag dieses Gefühl einer gesteigerten Wirklichkeit in FLOW.
Nicht alles wird im Film erklärt. Wir geben nicht wirklich eine Erklärung für die Überschwemmung, ihren Sinn oder die Bedeutung der Statuen, die die Protagonisten entdecken. Es gibt hier und da ein paar Hinweise, wofür sie stehen könnten, aber richtig erklärt wird es nicht. Es interessiert mich nicht, dem Publikum ein Rätsel zum Lösen vorzusetzen. FLOW ist also nicht so angelegt, dass man einen Sinn hinter allem erkennt, sondern so, dass man den Film als Erlebnis auf sich wirken lässt …
Ich kann mir schon vorstellen, dass einige Artikel oder Onlinevideos über das Ende von FLOW spekulieren, aber ich selbst habe kein Interesse daran, Antworten zu liefern. FLOW hat ein eher offenes Ende. Ich hoffe, man erinnert sich daran besser und denkt vielleicht später noch darüber nach. Aber abgesehen von den fehlenden Erklärungen ist der Film sehr klar und bietet für jede Figur eine eigene Geschichte. Die Katze startet an einem Punkt, um am Ende an einem vollkommen anderen in ihrem Leben anzukommen. Es ist einfach so, dass ich nicht die Logik der Welt erklären will: Mich interessiert die Reise, die
Entwicklung der Figuren.
Es gibt auch eine Traumszene in FLOW, aber sie dient mehr zur Beschreibung der Gedanken und Motivation eines Protagonisten. Alles ist um die Katze herum aufgebaut. Die gesamte Umwelt und all die unterschiedlichen Figuren, mit denen sie interagiert, sind im Film daraufhin angelegt, die Geschichte der Katze zu erzählen. So war zumindest die ursprüngliche Idee. Aber die anderen Tiere habe begonnen, ein Eigenleben zu entwickeln. Sie haben ihre eigene Geschichte während des Prozesses gefunden. Die traumähnliche Atmosphäre hat sich erst später ergeben. Vielleicht ist sie etwas, was sich bei mir natürlich einstellt.
Der Titel des Films FLOW bezieht sich auf die Flut und die visuelle Form des Geschichtenerzählens, die sich kontinuierlich mit den Protagonisten bewegt, dem Boot und den Wasserströmen folgt. Können Sie uns mehr über den Titel und seine Bedeutung erzählen?
Ich schätze, der Titel spiegelt den Roadmovie-Charakter des Films wider, da sich die meiste Action im Boot abspielt, und das bewegt sich stetig vorwärts. Der Roadmovie-Moment ist sehr wichtig, weil wir dadurch die verschiedenartigen Umgebungen entdecken können, und weil wir ohne Dialoge arbeiten. Außerdem war es für mich bedeutsam, dass es ein klares Ende dieses Trips mit dem Boot gibt, so wie die
Protagonisten auch an ihr Ziel kommen. Ebenso wollte ich ein Gefühl von Dringlichkeit vermitteln. Das geschieht durch die Katze, die immer versucht, die Türme zu erreichen, um ihrer Angst zu entfliehen. Das Narrativ ist also stark mit diesem einen Protagonisten verbunden, wobei ich allerdings nicht etwas wie Hitchcocks „MacGuffin“ anlegen wollte.
Die Katze ist nicht auf der Suche nach einer bestimmten Sache o. ä. Das Narrativ ist stattdessen direkt mit ihren Ängsten verknüpft. So klettert sie ständig, um Probleme zu vermeiden, auf etwas hinauf. Sie klettert auf ihr Haus, auf den Mast des Bootes, auf die riesigen Türme, alles mit dem Ziel, vor Problemen davon zu laufen. Ich denke, diese Verhaltensweise ist sehr menschlich, viele handeln so, ich wahrscheinlich auch. Ich versuche oft, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen. Aber am Ende entscheidet sich die Katze, herunterzuklettern, sich den Herausforderungen zu stellen und Risiken
einzugehen. Auch wenn sie sich damit unwohl fühlt.
FLOW war Ihr erster Film, bei dem Sie mit einem großen Team von Künstlern und Technikern zusammengearbeitet haben. Können Sie beschreiben, wie diese Kollaboration Ihnen dabei geholfen hat, sich als Geschichtenerzähler und Regisseur weiterzuentwickeln?
Ich war 24 Jahre alt, als ich AWAY abschloss, und begann sofort danach mit den Arbeiten an FLOW.
Mir standen ein größeres Budget und ein Team zur Verfügung. Die Fertigstellung dauerte fast zweimal so lang wie bei AWAY: Fünfeinhalb Jahre, weil alles ambitionierter, größer und komplexer war. Aber ich habe in der Tat viel dabei gelernt. Wenn ich mir einige frühe Skizzen zu FLOW ansehe und sie mit dem Endergebnis vergleiche, ist der fertige Film durch den Input des Teams so viel besser. Fantastische Leute haben am Film mitgewirkt, was sehr aufregend war. Am Anfang hat es mich eingeschüchtert, mit so vielen hochqualifizierten Menschen zusammenzuarbeiten, aber es stellte sich als sehr einfach heraus, was großartig war. Wir hatten Glück, so ein talentiertes Team verpflichten zu können.
Ich muss allerdings auch zugeben, dass es für mich manchmal schwierig war. Normalerweise, wenn ich allein an einem Film arbeite, habe ich eine Idee und tüftle dann aus, wie ich sie filmisch umsetzen kann. Bei FLOW musste ich anderen Menschen Sachen erklären, die ich noch nicht mal selbst ausgearbeitet hatte, so dass es manchmal schwierig war, verständlich zu machen, was ich mir vorstellte. Davor habe ich die Dinge immer im Prozess entwickelt. Ich passe an, arbeite daran weiter. Aber ich denke, wir haben gemeinsam herausgefunden, wie der Film aussehen soll.
Wir haben eine Menge visueller Referenzen verwendet, und ich habe auch Vorschläge für die Musik erarbeitet. Erste musikalische Themen kamen von mir, aber dann haben wir mit Richard Zaļupe einen anderen Komponisten angeheuert. Er ist professioneller Musiker, ich nicht. Das war erst das zweite Mal, dass ich mich mit der Musik für einen Film beschäftigt habe. Ich hatte, bevor ich die Musik für AWAY komponierte, keinerlei Erfahrung. Ich spiele kein Instrument oder so. Aber mein erster Entwurf des Scores war nützlich: Ich gab ihn Richard. Darin wurden musikalische Ideen angelegt, die ich nicht hätte verbal ausdrücken können, da es schwierig ist, einen Soundtrack mit Worten zu beschreiben. Diese Herangehensweise habe ich auch bei vielen anderen Aspekte der Filmerstellung angewendet. Ich habe einige grundlegende Computeranimationen / CG-Modelle oder elementare Bilder erstellt und sie dann dem Team zur Weiterbearbeitung und Verbesserung übergeben. Die Kommunikation im Team funktionierte also nicht nur verbal.
Können Sie die technische Funktion der Blender Software für den Film erklären?
Ein großer Vorteil von Blender ist, dass sie mit der Echtzeit-Rendering-Software Eevee verbunden ist. Ich bin nicht sicher, ob ich alle Softwares kenne, die verfügbar sind. Aber als ich recherchiert habe, war dieser Umstand ein großer Pluspunkt für uns, da ich gern mit der Bildsprache experimentiere und verschiedene Versionen zur Ansicht erstelle. Blender und Eevee haben mir erlaubt, viele Varianten anzulegen, unterschiedliche Kamerawinkel auszuprobieren und die Einstellung schnell zu rendern, um zu schauen, ob sie funktioniert oder nicht. Ich kann so spontaner, intuitiver und nicht so rigide arbeiten. Natürlich ist auch toll, dass es eine kostenlose Animationssoftware ist, da der Film ein moderates Herstellungsbudget hatte. Für lettische Verhältnisse war das Budget zwar enorm, aber wir haben eine viel kleinere Filmindustrie. In jedem Fall ist es hilfreich, kein Geld für teure Software ausgeben zu müssen. Blender ist außerdem gut, weil wir viel anpassen können.
Wir haben eine Menge benutzerdefinierte Tools für FLOW erstellt. Im Team gab es einige sehr talentierte Techniker, die spezielle Tools für den Film angelegt haben, die wir anpassen konnten, wann immer wir wollten.
Die Tiere sind wundervoll animiert. Erzählen Sie uns bitte mehr über Ihr Animtionsteam um Léo Silly-Pélissier.
Grundsätzlich ist FLOW eine Koproduktion von drei Ländern: Lettland, Frankreich und Belgien. Die Animation wurde in Frankreich und Belgien gemacht, abgesehen von ein paar Tests in Lettland. Das meiste entstand in Frankreich. Das Team war sehr jung, was ich wirklich aufregend fand. Alle waren enthusiastisch, sehr talentiert und begierig darauf, die bestmögliche Arbeit abzuliefern. Sie wollten sich selbst beweisen, so dass eine Menge Leidenschaft in ihrer Arbeit steckt. Lustigerweise verbrachten sie eine Menge Zeit damit, Katzenvideos anzusehen, als wichtiger Teil ihrer Recherche für den Film. Wir wollten, dass sich die Figuren sehr naturalistisch bewegen. Daher nutzten wir Katzenvideos, Hundevideos und ein weitläufiges Repertoire anderer Tierreferenzen. Das betrifft auch den Ton. Wir haben nicht auf Sprecher zurückgegriffen, die Tierstimmen nachahmen. Alles was man im Film hört, sind reale Tierlaute.
Obwohl Sie mysteriöse Szenen nicht erklären wollen, würden wir gern trotzdem auf eine zu sprechen kommen. Als der verwundete Vogel auf den Turm klettert und in das Licht des Sternenhimmels verschwindet, fühlt es sich so an, als würde er ins Jenseits, ins Leben nach dem Tod fliegen …
Diese Szene wurde kreiert, um die Reise, die die Katze bewältigt hat, widerzuspiegeln. Dieser Moment stellt einen Wendepunkt für sie dar. Davor hatte die Katze immer nur versucht, höher und höher zu klettern, um dem steigenden Wasser zu entgehen. Sie hatte auch gehoffte, alleine weiterleben zu können. Als sie aber dem Vogel zur Turmspitze folgt, erreichen sie die Sterne. Das Weltall ist gewissermaßen die ultimative Umgebung, in der man allein sein kann. Dort gibt es nichts, kein Leben, das Probleme verursachen kann. Das ist der eigentliche Grund, dass die Katze so hoch hinaufsteigt, die grundlegende visuelle Idee. Der Vogel wurde später hinzugefügt. In einer frühen Version der Szene stieg die Katze alleine auf den Turm. Aber dann wurde mir klar, wie emotional wirkungsvoll es sein würde, den verwundeten Vogel dabeizuhaben und ich fügte ihn hinzu. Anfangs wollte ich, dass die Katze wirklich alleine ist. Es ging darum, ihre Emotionen an diesem Punkt zu illustrieren, ihre inneren Konflikte zu zeigen. Die Katze will allein sein, aber ihr wird bewusst, dass sie nicht verschwinden will. Es ist ein großer Wendepunkt, und danach entscheidet sich die Katze zum Abstieg.
Was hoffen Sie, dass Kinder und Eltern bei FLOW erleben werden?
Ich bin sehr auf die Reaktion des Publikums auf den Film gespannt. Ich denke, er bietet etwas für jeden, Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen. Die Eltern werden den zugrundeliegenden Symbolismus verstehen, aber ich denke, dass auch Kinder den Subtext erfassen werden. Der Film ist nicht exklusiv für Erwachsene gemacht. Einige Mitglieder unserer Crew haben Clips von FLOW ihren kleinen Kindern gezeigt, und sie schienen von allem fasziniert zu sein. Ich denke allerdings nicht in diesen Kategorien. Mein Ziel war es nicht, einen Film für Kinder zu machen, sondern einen Film, den ich gerne sehen würde und hoffe dabei, dass jeder ihn verstehen und mögen wird.
BIOGRAFIE GINTS ZILBALODIS
Dem lettischen Filmemacher und Animationskünstler Gints Zilbalodis (* 1994) gelang mit seinem Langfilmdebüt AWAY 2019 der Durchbruch. AWAY gewann den Prix Contrechamp als Bester Animationsfilm beim Annecy International Animation Film Festival, wurde auf über 90 Filmfestivals gezeigt und in 18 Territorien verkauft.
Schon in einem frühen Alter wurde Gints Zilbalodis‘ Faszination und Liebe für den Film geweckt. Als Kind wuchs er mit Filmklassikern auf und begann bald, eigene Kurzfilme zu drehen. Vor AWAY gestaltete Zilbalodis sieben Kurzfilme und bediente sich dabei verschiedener Animationstechniken, wie Zeichentrick, 3D-Animation und auch Realfilm. Oft kombinierte er deren charakteristische Ästhetik miteinander.
FLOW ist Gints Zilbalodis‘ zweiter Langfilm, der seine Weltpremiere in der Sektion Un Certain Regard beim Internationalen Filmfestival in Cannes 2024 feierte.
FILMOGRAFIE GINTS ZILBALODIS
2024 FLOW
2019 AWAY – VOM FINDEN DES GLÜCKS
2017 OASIS (Kurzfilm)
2017 INAUDIBLE (Kurzfilm)
2014 FOLLOWERS (Kurzfilm)
2014 PRIORITIES (Kurzfilm)
2012 CLARITY (Kurzfilm)
2012 AQUA (Kurzfilm)
2010 RUSH (Kurzfilm)
Foto:
©Verleih
Info:
Herstellungsland: Lettland / Frankreich / Belgien
Herstellungsjahr: 2024
Laufzeit: ca. 84 Min.
Bildformat: 4K, 16:9 Letterbox (2:1)
Sprachfassung: OV (keine Dialoge) 7.1 / 5.1
Formate: DCP & Blu-ray
FSK: ab 6 Jahren freigegeben
StabRegie Gints Zilbalodis
Drehbuch Gints Zilbalodis, Matīss Kaža
Musik Gints Zilbalodis, Rihards Zaļupe
Abdruck aus dem Presseheft