38. Montreal Filmfestival im August 2014
Kirsten Liese
Montreal (Weltexpresso) - In der Filmwelt ist derzeit viel los, ein Festival jagt das nächste: Soeben hat Toronto eröffnet, in Venedig geht am Wochenende die 71. Mostra zu Ende. Zwischen den beiden Riesen verdiente aber auch Montreal, das zweite große kanadische Festival viel Beachtung, das soeben mit einer Preisverleihung ausklang.
Es stand in seiner 38. Ausgabe angesichts finanzieller Schwierigkeiten in der vielleicht schwierigsten Phase seiner Geschichte. Am Rande der Vorführungen sammelten Mitarbeiter Unterschriften für den Erhalt des Festivals. Das wichtigste Argument aber für dessen Zukunft und Unentbehrlichkeit war das rundum anspruchsvolle Programm.
Gewiss, Montreal hat es innerhalb der wachsenden Konkurrenz unter den A-Festivals nicht leicht. Viele Beiträge im Wettbewerb waren zuvor schon in Cannes, Locarno oder Toronto abgelehnt worden, aber das sagt wenig über deren Qualität aus. Montreal war offenbar einfach nur mutiger, komplexe Filme zu sehr sensiblen und unbequemen Themen zu präsentieren.
Vor allem das deutschsprachige Kino bescherte der kanadischen Metropole seine Perlen. „Der letzte Tanz“ aus Österreich, der vielleicht radikalste Beitrag, überragte den Internationalen Wettbewerb. Vor dem Hintergrund des gemeinhin lieblosen Umgangs mit Hochbetagten in Pflegeeinrichtungen erzählt der iranischstämmige, psychologisch geschulte Regisseur Houachang Allahyari von der ungewöhnlichen Beziehung zwischen dem Zivilidienstleistenden Karl und einer 87-jährigen Patientin.
Der sensible Mann tut das, wofür sich das übrige Personal keine Zeit nimmt: Er liest der alten Frau vor, versorgt sie mit ihrer Lieblingsmusik, nimmt sie ernst und bewirkt damit Wunder. Die bis dahin etwas störrische Julia Ecker erwacht aus ihrer Depression, blüht regelrecht auf, sehnt sich nochmal nach Jugend und Schönheit und entwickelt starke Gefühle für den introvertierten, intelligenten Auszubildenden, der sich auf ein sexuelles Abenteuer mit ihr einlässt, als sie ihn während einer Nachtschicht verführt. Nur ruiniert der Junge damit sein Leben: Wegen vermeintlichen „Missbrauchs einer hilflosen Frau“ verklagt die leitende Schwester der Station den Kollegen, den sie in Wirklichkeit beneidet, weil er bei den Patienten beliebter ist als sie.
Allahyari stellt sich klar auf die Seite seiner Helden, sensibilisiert dafür, dass Erotik zwischen einem alten und einem jungen Menschen nichts Abstoßendes ist. Sein Trumpf dabei ist seine grandiose Hauptdarstellerin Erni Mangold, die im wirklichen Leben so alt ist wie ihre Figur. Sie ist wie Emmanuelle Riva in Hanekes „Liebe“ eine Persönlichkeit mit einer ganz besonderen Aura und besitzt in den entsprechenden intimen Szenen einen bezaubernden, fast mädchenhaften Charme. Das dicht inszenierte, subtile Kammerspiel besticht zudem mit Bildern von großer Zärtlichkeit und künstlerischem Gespür.
Komplexe Figuren und eine kluge Psychologie bestimmen auch Curtis Burz’ Drama „Das Sommerhaus“, ein beunruhigender lebensnaher Beitrag zum Thema Pädophilie. Auf den ersten Blick ist Markus ein ganz normaler Mann um die 40, beruflich erfolgreich, verheiratet und Vater einer bezaubernden kleinen Tochter. Doch hat er an seiner entsprechend frustrierten Frau schon lange jegliches sexuelle Interesse verloren. Heimlich trifft er sich mit schwulen Männern, aber besonders stark fühlt er sich zu dem 12-jährigen Sohn eines befreundeten Geschäftspartners hingezogen. Unter falschen Vorwänden lockt er den Jungen in seine Sommerlaube, wo er mit ihm allein viel Zeit verbringt. Unwillkürlich stellt sich ein unbehagliches Gefühl ein, und doch bleibt lange vage, ob es zu Übergriffen kommen wird. Dem Klischee eines Perversen, der ein Kind zum Opfer macht, entspricht er damit nicht, was einige kanadische Kritiker erzürnte.
Aber ist es nicht viel ehrlicher, Menschen in ihrer Ambivalenz zu zeigen als sie zum Monster zu machen? Nicht jeder pädophil Veranlagte lebt seine Neigungen aus. Das Sommerhaus“ verharmlost das Thema nicht, macht es aber noch brisanter, weil es in seiner Komplexität Ausmaße annimmt, die größer sind als man wahr haben möchte.
Schade, dass die Internationale Jury unter dem Vorsitz von Sergio Castellito diese Produktionen ebenso wenig bei ihrer Preisvergabe bedachte wie Christian Wagners respektable Adaption „Das Ende der Geduld“ des gleichnamigen viel diskutierten Buchs der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig mit einer wie immer brillanten Martina Gedeck in der Hauptrolle.
Nur der harmloseste deutsche Film „Das Zimmermädchen Lynn“ gewann immerhin und verdient den künstlerischen Spezialpreis und den Fipresci-Kritikerpreis. In der skurrilen, subtil erzählten Tragikomödie geht es um eine neurotische Hotelbedienstete, die unter exzessiven Putzzwängen leidet und sich als Voyeurin nachts unter die Betten der Gäste legt, bis sie eines Tages zu einem Callgirl Kontakt aufnimmt, das sie bei Sadomaso-Praktiken mit einem Kunden beobachtet hat.
Den Hauptpreis in Montreal aber gewann das mexikanische Drama „Obediencia Perfecta“, das sich zwar durchaus subtil mit der Pädophilie katholischer Priester auseinandersetzt, aber doch nicht an Pedro Almodovars Meisterwerk „La mala educaion“ heranreicht, das eine ganz ähnliche, aber berührendere Geschichte erzählt.
Den Spezialpreis der Jury und den Preis für die beste Regie verschenkte die Jury an zwei gänzlich uninteressante Produktionen aus Japan.
Foto: Film: Der letzte Tanz, links der Zivildiesntleistende, rechts Erni Mangold als Julia Ecker