
Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vermiglio zeigt ein fast vormodernes Leben in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf sehr dichte, atmosphärische und gleichzeitig sehr organische Weise. Wie haben Sie recherchiert? Spielten persönliche oder familiäre Erinnerungen eine Rolle?
Es ist schon immer meine Arbeitsweise, dass ich lange an den Orten bin, von denen ich erzählen will. Ich tauche da selbst ein, mit allen fünf Sinnen. Das ist ein kreativer Moment, der dafür sorgt, dass der Film auf seinem eigenen Boden wächst und sich dann organisch entwickeln kann, wenn er gut gewässert wird. Wie eine Pflanze. Um Vermiglio zu schreiben, habe ich viel Zeit in dem Haus verbracht, in dem meine Großmutter ihre vielen Kinder zur Welt gebracht hat, in den Mauern, in denen mein Vater und seine Geschwister aufgewachsen sind.
Für diesen Film war es auch notwendig, durch die Zeit zu reisen. Es hat mir deshalb sehr geholfen, ein
Familienarchiv voller Fotos zu haben, das ich bereits gut kannte und das ich nun mit anderen, aufmerksameren Augen ansah.
Diese persönliche Beziehung zum Ort war für mich sehr hilfreich, direkt und indirekt: Einerseits für eine Art von phylogenetischer Erinnerung, bewusst oder unbewusst, an die Geschichten, die ich als Kind gehört hatte, für die Erinnerung an den Geruch der Küche meiner Großmutter, für das Wiedererkennen der eigenen Züge in den Gesichtern und Bewegungen der Menschen, und andererseits dafür, erkennen zu können, was und wer von der Zeit verändert wurde und wer, zum Glück für diesen Film, noch ihre Spuren trägt. Um das Casting vorzubereiten,
habe ich viel Zeit in Bars verbracht: Jeder dieser Männer war mein Großvater. In den Kirchen, unter all den Frauen, sah ich meine Großmutter. Die Enkelin des Lehrers von damals zu sein, machte es mir anfangs natürlich leichter, Zugang, Vertrauen und sogar Zuneigung zu finden. Schließlich tragen fast alle in Vermiglio die gleichen vier oder fünf Nachnamen, und Delpero ist einer davon.
Wie in Ihrem vorherigen Film Maternal stehen auch in Vermiglio die Frauen im Zentrum, die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, die Frage, was es bedeutet, sowohl Mutter als auch unabhängige Frau zu sein. Aber jetzt spielen die Männer eine viel größere Rolle.
Wenn ich „realistische“ Filme mache, bin ich sehr darauf bedacht, der Realität verbunden zu bleiben. In Maternal, wie auch in meinem vorherigen Dokumentarfilm Nadea und Sveta, waren Männer in dem von mir beschriebenen Umfeld völlig abwesend, es wäre schwierig gewesen, sie einzubeziehen. In der Welt, die ich in Vermiglio beschreibe, sind sie teilweise abwesend, weil sie im Krieg sind. Dafür erzähle ich von denen, Kinder oder Erwachsene, die nicht weggegangen oder die zurückgekehrt sind.
Die Welt und die Geschichte, die ich erzähle, diktieren mir ihre Regeln, ich kümmere mich nur darum, sie entsprechend meinen moralischen oderdramaturgischen Positionen zu transportieren. Abgesehen von dieser inneren Kongruenz in der Geschichte habe ich sicherlich, zumindest in den letzten Jahren, die Neigung entwickelt, von Frauen zu erzählen, sowohl aus persönlichen als auch aus ideologischen Gründen. Einerseits fand ich es interessant, sie in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, ihre Perspektive zu priorisieren und so eine Tendenz des klassischen Kinos umzukehren, andererseits war es ein Fokus, der sich für mich natürlich
anfühlte: Ich hatte das Gefühl, dass ich weiß, wie man von Frauen erzählt, ohne an der Oberfläche zu bleiben.
Was die Mutterschaft betrifft, so habe ich im Nachhinein festgestellt, dass sie wie ein roter Faden in
meiner Arbeit ist. Es ist ein Thema, für das ich mich nicht entschieden habe. Es war ein inneres Bedürf-
nis, ein Thema, das meinen Kopf und mein Herz berührte. Es filmisch zu behandeln, war etwas, das
sich aufdrängte. Das heißt nicht, dass ich nicht über Männer sprechen will oder kann. Im Gegenteil, ich
habe sehr gerne von Cesare, Pietro, Attilio, Dino oder den Kindern erzählt. Wo es Menschlichkeit
mit all ihren Widersprüchen gibt, da ist meine intellektuelle und menschliche und deshalb auch filmische Neugierde.
Es geht in Ihrem Film auch um den Konflikt zwischen Tradition und Moderne, ein Thema, das von etlichen großen italienischen Regisseuren behandelt wurde.
Vermiglio handelt von einer Gemeinschaft, in der das, was nicht greifbar ist, räumlich oder zeitlich, durch die Vorstellungskraft geschaffen wird, wobei man sich vielleicht auf einen einzigen Bezugspunkt stützt. So wird der Atlas des Vaters zu einem Gefäß für die Sehnsüchte der Schwestern, wie ein Fenster zur Welt. Gleichzeitig bringt der historische Moment, von dem im Film erzählt wird, ein „davor“ und ein „danach“ in Bezug auf den Krieg mit sich, was wie zu einer Wasserscheide zwischen zwei Welten wird.
Der dramaturgische Weg, den wir gewählt haben, ist der eines Films, der als Ensemblestück anfängt und die Erfahrungen aller Familienmitglieder miteinander verwebt und sich dann mehr und mehr auf seine Protagonistin konzentriert. Tatsächlich ist es Lucia, die mit dem Grenzen sprengenden Weg betraut wird, der die Tür zu einer neuen Gesellschaft öffnet. Sie schultert die größere Bewegung, die dem Film zugrunde liegt, wird von ihren Schultern getragen, die Transition vom Konflikt zum Wiederaufbau, von der alten zur modernen Welt, vom Land zur Stadt, von der Gemeinschaft zum Individualismus. Die Geschichte wird metaphorisch und gleichzeitig anthropologisch, soziologisch und politisch geschichtet: Lucia wird zur Metapher für die Nachkriegs-Transition, sie wird, durch Unglück und Notwendigkeit, zur Protagonistin einer Überwindung, zur Frau einer neuen Zeit.
Gab es künstlerische Referenzen und Einflüsse, die für Sie wichtig waren?
Was die filmischen Einflüsse angeht, so habe ich nie direkte Referenzen. Natürlich gibt es sie, aber ich
erkenne sie erst im Nachhinein oder werde in der Entwicklungsphase danach gefragt. Die Wahrheit ist, dass ich immer damit anfange, auf mein Inneres zu hören, auf das, was mich umtreibt, an Gefühlen und Bedürfnissen. Der künstlerische Ausdruck verdankt sich immer zum Teil denen, die uns vorausgegangen sind, von denen wir gelernt haben und die wir geliebt haben. Ermanno Olmi ist sicherlich einer der Regisseure, die ich am meisten respektiere, besonders einige seiner Filme trage ich in meinem Herzen. Auch De Sica ist ein Filmemacher,
den ich liebe. Oder Hanekes Das weiße Band, an dem ich die Geschichte einer kleinen Gemeinschaft sehr geschätzt habe.
Ich habe das Gefühl, dass es auch andere Einflüsse auf meine Arbeit gibt, auch wenn das von außen vielleicht schwieriger zu erkennen ist, fotografische, malerische, musikalische und vor allem literarische Einflüsse. Mir hat die Idee gefallen, dass man in diesem Film „umblättern“ kann, indem man die Schicksale verschiedener Figuren aus derselben Familie verfolgt, wie in einem Roman. Natalia Ginzburg zum Beispiel ist eine Autorin, die es versteht, über das alltägliche Leben zu sprechen – aber das ist nur einer der vielen Namen, die mir einfallen. Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer, meine Einflüsse zu benennen, weil sie auf einer unbewussten Ebene wirken.
Foto:
©Verleih
Info:
Besetzung
Cesare Tommaso Ragno
Pietro Giuseppe De Domenico
Adele Roberta Rovelli
Lucia Martina Scrinzi
Tante Cesira Orietta Notari
Virginia Carlotta Gamba
Attilio Santiago Fondevila Sancet
Ada Rachele Potrich
Flavia Anna Thaler
Dino Patrick Gardner
Pietrin Enrico Panizza
Tarcisio Luis Thaler
Giacinto Simone Bendetti
und
Anna Pennisi Sara Serraiocco
Stab
Buch & Regie Maura Delpero
Abdruck aus dem Presseheft