k4Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. Oktober 2025, Teil 4

Redaktion

Prag (Weltexpresso) – Von allen literarischen Figuren des 20. Jahrhunderts hat wohl keiner ein dichteres Echo in die Gegenwart geworfen als Franz Kafka (1883-1924). Der Mann, der zu Lebzeiten kaum beachtet wurde, dessen Werke posthum durch seinen Freund Max Brod gegen den eigenen Willen veröffentlicht wurden, ist heute ein literarischer Fixstern – und zugleich ein kultureller Seismograph. Wer Kafka liest, liest nicht nur über einen verwirrten Versicherungsangestellten in Prag, sondern liest auch über sich selbst: im Wartezimmer eines Amtes, im Strudel digitaler Absurdität, im Spiegel moderner Identitätsfragmente.

Was aber macht ihn so gegenwärtig? Warum taucht sein Name zuverlässig auf, wenn über Überwachungsstaaten, Bürokratie oder existenzielle Erschöpfung geschrieben wird? Was
verrät uns das Leben und Werk dieses merkwürdigen Mannes – der nie weit gereist ist, nie große Reden hielt, zeitlebens von Krankheit heimgesucht war und seine tiefsten Wahrheiten
zurückgezogen formulierte – über unsere eigene Zeit?

Die Antwort liegt irgendwo zwischen Sprache und Schweigen, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Mensch und System. Kafka ist der Autor, der unsere Verhältnisse nicht erklärt,
sondern sie erfahrbar macht. Und das, paradoxerweise, mit einer Klarheit, die gerade aus der Undurchschaubarkeit schöpft.

Kafka wurde 1883 in Prag geboren, in eine Welt der Übergänge. Er war Jude in einer mehrheitlich katholischen Stadt, deutschsprachig in einem tschechischen Milieu, bürgerlich mit einem Hang zum Asketischen, Jurist mit einem literarischen Zweitleben. Schon seine Biografie zeigt die Spannungen, die seine Literatur prägen sollten: zwischen Innen und Außen,  Zugehörigkeit und Fremdheit, Norm und Abweichung.

In dieser Vielschichtigkeit liegt ein Schlüssel zu seiner heutigen Bedeutung. Kafka lebte nicht in einer Welt klarer Identitäten – und das macht ihn zum Propheten einer Zeit, in der Identität
ein fluides Konstrukt ist. Er wusste, was es heißt, sich selbst nur durch die Augen anderer zu erkennen – durch die des Vaters, des Arbeitgebers, der fremden Richterfiguren, die seine
Romane bevölkern. Wer heute zwischen sozialen Rollen, Herkunftserwartungen und digitalen Selbstinszenierungen pendelt, erkennt in Kafkas Figuren kein Historienbild, sondern ein
Spiegelbild.


„Der Prozess“ als Protokoll der Entmündigung

Kaum ein Text hat die Moderne so präzise auf den Punkt gebracht wie „Der Prozess“. Josef K. wird verhaftet, ohne dass man ihm einen Grund nennt. Er ist nicht schuldig – aber das spielt keine Rolle. Das Verfahren gegen ihn entwickelt eine eigene, kafkaeske Logik. Die Bürokratie wird zur Maschinerie, die sich selbst legitimiert. Was Kafka beschreibt, ist nicht nur ein
fiktionales Justizsystem. Es ist das Grundgefühl moderner Subjektivität: die Ohnmacht gegenüber Strukturen, die anonym, abstrakt und doch allgegenwärtig sind. Heute heißen diese
Strukturen nicht mehr nur Gericht, sondern auch Algorithmus, AGB oder Callcenter, die zur kafkaesken Erfahrung werden. Die Welt des „Prozess“ ist nicht mehr Zukunftsvision, sondern
Teil unseres digitalen Alltags. Der Einzelne hat wenig Einfluss auf das System, das ihn betrifft – oft weiß er nicht einmal, nach welchen Regeln es funktioniert.


Körper, Kontrolle und Krankheit

Kafka war ein Hypochonder, ein Lungenkranker, ein Körperfeind und Körperverliebter zugleich. Sein Verhältnis zum eigenen Leib war von Schmerz, Scham und Kontrolle geprägt. In Texten wie „In der Strafkolonie“ wird der Körper zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Machtverhältnisse: gequält, vorgeführt, diszipliniert. In einer Zeit, in der über Körper – über ihre Normierung, ihre Sichtbarkeit, ihre Rechte – erneut heftig diskutiert wird, gewinnen diese Texte neue Relevanz. Die Fragen, die Kafka aufwirft, lauten: Wem gehört mein Körper? Wer
bestimmt über seine Grenzen, seine Nutzung, seine Relevanz? Wie kann ich mich behaupten in einer Welt, die mich entweder standardisiert oder ausgrenzt?


Sprache als Widerstand

Kafka war kein politischer Mahner, kein Aktivist. Er war ein Zweifler, ein Zögerer. Seine Sprache ist kühl, aber nicht kalt. Sie sagt nicht mehr, als sie sagen muss. Gerade in dieser  sprachlichen Askese liegt ihre Kraft. In einer Zeit der Reizüberflutung, der Dauerkommentierung, der meinungsstarken Überproduktion ist Kafkas Sprache eine Form des Widerstands. Sie ist ein Werkzeug der Weltbeobachtung, nicht der Weltverwertung. Seine Figuren kämpfen, verlieren, verschwinden – aber sie beugen sich nicht. Sie geben keine einfachen Antworten. Sie bleiben offen, ambivalent, verletzlich.


Kafka als Marke

In Prag ist Franz Kafka längst mehr als nur ein Autor – er ist ein Kulturgut, ein Aushängeschild, ein Wirtschaftsfaktor. Man begegnet ihm auf Tassen, T-Shirts, Magneten. Es gibt Kafka-
Kaffees, Kafka-Büsten, Kafka-Stadtrundgänge. Der schmale, zweifelnde Mann, der sich selbst als Randfigur verstand, ist zum urbanen Maskottchen geworden. Diese Omnipräsenz ist mehr als bloßer Tourismus. Sie ist Teil einer städtischen Selbstinszenierung: Kafka steht für intellektuelle Tiefe, für das Mystische des Mitteleuropäischen, für eine verlorene jüdisch-
deutsche Kultur, die in Prag zugleich betrauert und vermarktet wird. In seiner stilisierten Form verkörpert Kafka ein Erbe, das emotional aufgeladen, aber kulturell entkernt wurde.

Der Widerspruch liegt offen zutage: Kafka, der Chronist der Entfremdung, wird zum populären Identifikationssymbol. Der Mann, der an Sichtbarkeit litt, wird ausgestellt. Es ist ein paradoxer Triumph – einer, den Kafka wohl weder gesucht noch begrüßt hätte. Und doch passt es irgendwie. Denn auch das gehört zur kafkaesken Logik: Dass der Versuch, dem System zu entkommen, in dessen Zentrum führt. Dass aus Unsichtbarkeit eine Pose wird. Vielleicht ist die Kafka-Marke die endgültige Pointe seines Werks: eine Welt, in der selbst der Zweifel
käuflich geworden ist.

Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung 

FRANZ KAFKA.       IDAN WEISS
HERMANN KAFKA.      PETER KURTH
OTTLA KAFKA.      KATHARINA STARK
MAX BROD            SEBASTIAN SCHWARZ
FELICE BAUER     CAROL SCHULER
MILENA JESENSKÁ.     JENOFÉVA BOKOVÁ
SIEGFRIED LOEWI.     IVAN TROJAN
JULIA KAFKA              SANDRA KORZENIAK
OSKAR BAUM            AARON FRIESZ
GRETE BLOCH           GESA SCHERMULY

Stab
REGIE        AGNIESZKA HOLLAND
DREHBUCH     MAREK EPSTEIN, AGNIESZKA HOLLAND

TECHNISCHE DATEN
Tschechien/Deutschland/Polen, 2025
Länge: 127 Minuten
Bildformat: 2:1
Tonformat: 5.1

Abdruck aus dem Presseheft