Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. Dezember 2014, Teil 1
Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) – Es gibt Filme, von denen man sich gar nicht viel verspricht, vor allem, wenn man die Regisseurin und anderes Personal nicht kennt, und dann hellauf begeistert ist und weiß, man hätte etwas versäumt, hätte man diesen Film nicht gesehen. So hier!!
TITOS BRILLE
Beim Sehen bedauert man schnell, daß man das zugrunde liegende Buch des Vielseitstalents Adriana Altaras nicht kennt, die im normalen Leben auch Regisseurin ud Schauspielerin ist, hier aber die Protagonistin der Familiengeschichte. Nach dem Tod der Eltern fährt sie mit dem letzten Koffer zurück in die alte Heimat nach Zagreb, wo sie noch geboren wurde, bevor die Eltern aus Protest das damalige Jugoslawien verließen. Die ganze Familiengeschichte, die eigentlich europäische Geschiche des 20. Jahrhunderts ist, hat einen Grundton, den wir als jüdische Selbstironie bezeichnen möchten, die diesen Film zusammenhält, und obwohl wir sekündlich über 94 Minuten mit der Haupt- und Selbstdarstellerin Adriana Altares auf der Leinwand zusammen sind, wird uns diese weder langweilig, noch wir ihrer überdrüssig.
Das ist eigentlich das größte Kompliment, daß wir der Regisseurin Regina Schilling machen können, der zudem ein Film gelungen ist, der mehr ist als ein Dokumentarfilm und gleichzeitig nicht weniger als ein Spielfilm, eigentlich ein Genre, für das es noch keine Bezeichnung gibt. Wer zudem Hesse ist, erst recht Mittelhesse, für den ist dieser Film Pflicht. Denn der Weg der in Berlin mit Mann und Kindern lebenden Tochter Adriana geht auf dem Weg in die alte Heimat zur Zwischenheimat Gießen, wo die Eltern – jeder für sich – es zur nationalen und regionalen Bedeutung brachten. Den Weg legt sie zurück im alten und geerbten Mercedes der Eltern, das auch noch, und das Auto wird natürlicher Mitspieler, da es immer an den richtigen Stellen streikt und nicht anspringt.
Das Buch sprach im Untertitel von einer strapaziösen Familie, was sich auf die Mitglieder aber auch auf deren Leben in den politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts bezieht. Auf Dauer strapaziös können wir uns auch die Tochter, also Adriana, vorstellen, deren Temperament und Vielseitigkeit diesem Film aber Kurzweil, Witz und gleichzeitig geschichtlich-politische Aufklärung verdankt. Und das Strapaziöse für die Tochter und Enkelin wird auf dieser Fahrt die Notwendigkeit werden, von den Familiengeschichten, die so schön klingen, den Mythos von der Wirklichkeit abzutrennen, denn spätestens auf dieser Fahrt und erst recht in Kroatien und Zagreb wird ihr klar, daß da einiges nicht stimmen kann mit den Familienlegenden und den Zuschreibungen. Angefangen mit der Brille. Der Brille Titos.
Der verdankte nämlich ihr Vater Jakob einen Heldenstatus, der lange hielt, und als er brach, für ihn in Jugoslawien kein Bleiben mehr war. Zu Zeiten, als die Deutschen Kroatien im Zweiten Weltkrieg besetzten, kämpfte er 1944 mit Titos Partisanen in den Bergen gegen die Besatzer, was schwierig wurde, als dessen Brille kaputt ging. Doch diese reparierte Vater Jakob, was ihn zum Helden, auch dem Familienhelden machte. Nur, das sind dann die Erkenntnisse der Tochter, die wie der Film zeigt, eine absolute Vater- keine Muttertochter war: damals trug Tito gar keine Brille. Ein gutes Beispiel für vieles, was an Überlieferungen und Legendenbildungen für die Tochter, nun in der alten Heimat angekommen, zusammenbricht.
Hochinteressant für uns der Hintergrund der Ausreise der Familie nach Deutschland 1967. Denn der Vater wurde zu Unrecht aus einer gesellschaftlich anerkannten Position als Arzt heraus verhaftet und verurteilt, konnte aber im Wiederaufnahmeverfahren seine Rehabilitierung erreichen, wollte dann aber für diesen Staat nicht mehr Bürger sein und ging nach Westdeutschland, wo er schnell reüssierte wie auch die Mutter Thea. Er als professoraler Mediziner und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, sie als Architektin im Hochbauamt. Beide erhielten – wenn wir uns richtig erinnern – das Bundesverdienstkreuz, was eben auch etwas über damalige Asylanten aussagt und welchen Beitrag sie zum Prosperieren der Bundesrepublik beitrugen. Doch das erst mal ohne Tochter. Denn die, 1960 geboren, wurde von der in Italien verheirateten Tante außer Landes geschmuggelt und wuchs bei ihr in Freiheit und Wärme auf, bis sie nach Gießen kam, dort aber zum Zorn der Tante in ein Internat gesteckt wurde. Man hat den Eindruck, die Eltern waren zu sehr mit ihren beruflichen Aufgaben beschäftigt.
Der Vater auch mit seinen Geliebten. Denn die Tochter findet dann so manches, was wir auf der Leinwand vergrößert sehen, an Fotos, Postkarten oder Filmen (ganz unglaublich, wie viel Aufnahmen es gibt), was die Tochter schon ahnte, was jetzt aber zur Gewißheit wird: das Leben der anderen ist immer anders, als es erscheint. Familien und Familienmitglieder haben ihre Geheimnisse. Dieser Film, der einen halben Kontinent durchquert und mehr als ein Jahrhundert, denn auch von den Großeltern erfahren wir, ist ein schönes Beispiel dafür, wie nah Kroatien auch als Teil des Habsburgerreiches war, was es jetzt in Europa wieder wird.
FOTO: Adriana mit der Tante in Italien
INFO:
Deutschland 2014
R. und B.: Regina Schilling
Adriana Altaras, Jakob Altaras, Thea Altaras u.a.