Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 7/25

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) –Selten ist uns ein Film so unter die Haut gekrochen, physisch wahrnehmbar, angesichts von unterschwelligem Grauen, weil wir miterleben, wie ein doch äußerlich zufrieden im Beruf des Lehrers und mit liebevoller Gattin versehener Mann mit den Dämonen seiner Vergangenheit nicht fertig wird und darum seine Zukunft verbaut.

 

Regisseur Antonio Chavarrías hat etwas filmisch Merkwürdiges und auch Seltenes zuwegegebracht. Obwohl oder sogar weil wir den Schluß von Anfang an ahnen, verhindert das nicht die Spannung,  die man beim Zuschauen fühlt, sondern erhöht sie. Wir haben es also mit einem raren Psychothriller zu tun, der die Unwegsamkeiten von persönlichen Schicksalen als vorgesehen, als vom Fatum diktiert, ablaufen läßt, so als ob es keine Alternative gegeben hätte. Diese sehen wir als Zuschauer, möchten „Halt!“ rufen und eingreifen, aber vor uns entwickelt sich eine Tragödie, die der Regisseur ganz und gar nicht unbescheiden, als eine des antiken griechischen Theaters mit raunendem Chor beschreibt.

 

Daniel ist dieser erst einmal sympathische Lehrer, dargestellt von Juan Diego Botto, der glücklich mit Laura, Bárbara Lennie, verheiratet ist, die zudem Kollegin an der gleichen Schule ist. Sie wünscht sich ein Kind, er hat es nicht so mit Kindern. Denn da gibt es etwas aus seiner eigenen Kindheit, was wir nur durch auffällige Alpträume mitbekommen und sich real zum ersten Mal zeigt, als sein kindlicher Gefährte Mario auftaucht. Der wäre nämlich damals fast sein Bruder geworden, als dessen Mutter und sein Vater sich verheiraten wollten, was unterblieb, als Marios Schwester Clara unerklärlich verschwand.

 

Wie Daniel auf das Auftauchen von Mario reagiert, nämlich ablehnend, das merkt auch seine Frau. Dieser Mario legt seine Tochter Daniel ans Herz, dieser will davon nichts wissen, hat sie aber auf einmal am Hals, als Mario sich umbringt. Die Szene mit der ahnungslosen Tochter Julia - eindrücklich und irgendwie sehr spanisch gespielt von Mágica Pérez – in der Badewanne, wo sich unter ihrem Glucksen der Vater angezogen in die Badewanne dazusetzt, sich dann das Wasser rot färbt, weil er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, gehört zu den verstörendsten Szenen, weil man als Zuschauer dem Kind den Schutz geben möchte, den der Vater ihr versagte.

 

Die Geschichte entwickelt sich. Das kinderlose Ehepaar wird die elternlose Julia aufnehmen, nein, Laura wird sie aufnehmen und Daniel wird sie ablehnen. Aus gutem Grund, weil schlechtem Grund. Wir ahnen also, daß das was zusammenhängt mit der verschwundenen Clara und der gegenwärtigen Julia, die aber für Daniel zu Clara wird. Nicht nur für ihn, denn später bekommen wir mit, daß Julias Großmutter, also Marios Mutter, den entdeckten Tod der Tochter Clara nie verwunden hat und das Kind Julia als Clara aufzieht, mit den fiktiven Geschwistern Mario und Daniel.

 

Mehr wollen wir hier nicht verraten. Wie gesagt, der Schluß ist immanent, aber die Art und Weise, wie dieser Film die Geschichte erzählt, ist verstörend. Und so etwas ist immer ganz schön große Kunst. Aber dies wird nicht vordergründig wahrnehmbar, eigentlich erst, wenn sich das Geschaute ein wenig gesetzt hat. Das Bedrohliche bleibt.