Vor der 87. Oscarverleihung in der Nacht vom Sonntag auf Montag, 22./23. Februar, im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich müßte man die Oscars boykottieren, so durchschaubar sind auf der einen Seite die Nominierungen und so anpasserisch verhalten wir uns alle gegenüber der Oscarvergabe in Los Angeles, die doch eigentlich nur innerarmerikanische Spiele sind.

 

Machen wir uns nichts vor. Auf dem Wege, daß wir alle Amerikaner werden, sind wir ganz schön weit gekommen, die Bewußtseinsindustrie hat voll zugeschlagen und es wäre an der Zeit, daß wie zu Zeiten des Eisernen Vorhangs ein Gegenzentrum entsteht, damit wenigstens Hollywood sich in einer anderen Bewertung von Filmen spiegeln könnte. Ist aber nicht. Dabei schafft es die amerikanische Filmindustrie, gemeint ist die American Academy of Motion Pictures and Science, ganz gut, immer mal wieder Außenseiter ranzulassen, so daß es aussieht, als ob es 'gerecht' zugeht. Aber, was ist gerecht und was ein guter Film? Und wollen amerikanische Besuchermassen gute Filme sehen, sich gar mit etwas beschäftigen oder fallen sie alle auf den Dreh herein, etwas Zukunfträchtiges der Vergangenheitsbewältigung vorzuziehen.

 

Dafür ist die letzte Oscarvergabe ein gutes Beispiel. Denn da bekam großen Zuspruch und den Oscar das historisch korrekte, gleichwohl niederschmetternde Filmdrama 12 YEARS A SLAVE und GRAVITY, diese Zukunftsversion, bekam den Oscar eben nicht. An der Kinokasse war es umgekehrt, was man sich in Deutschland einfach nicht vorstellen kann, aber in Amerika so war: Letzterer Film spielte über 700 Millionen Dollar ein und das Sklavendrama nur unter 200 Millionen Dollar. Eine Abstimmung mit den Füßen und den Dollars. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn auch bei den Oscars war GRAVITY insofern erfolgreicher, als der Film sieben Oscars (bei 10 Nominierungen) erhielt gegenüber dreien für 12 YEARS A SLAVE (9 Nominierungen). Aber der Beste Film ist doch immer der Hauptpreis und bleibt auch im Gedächtnis.

 

Kommt die Situation von diesem Jahr, die eines deutlich aufzeigt: Männer über Männer – und zwar weiße Männer. Schwarze Männer und Frauen kommen zwar in den Filmen im Details schon vor, aber sie sind weder die tragenden Helden, noch oscarwürdig. Ausnahme ist zuallererst der Film SELMA, der den Marsch um das materielle Wahlrecht für schwarze Amerikaner, angeführt von Martin Luther King zeigt, also einen schwarzen Schauspieler als Hauptrolle. Wobei das Erstaunlichste schon einmal ist, daß es über diese historische Tatsache bisher keinen Spielfilm gibt. SELMA ist für den Besten Film nominiert, aber man hört hinter vorgehaltener Hand sofort, daß es nach dem Sklavenfilm vom letzten Jahr nicht schon wieder einen Film geben könne, der einem Schwarzen gewidmet ist, auch, wenn es um das 20. Jahrhundert geht. In Berlin fügte die (schwarze) Regisseurin Ava Duvray hinzu, daß erst durch die Präsidentschaft von Barack Obama das Bedürfnis gekommen sei, historische Ereignisse und insgesamt die Geschichte der Schwarzen in den USA über Filme im kulturellen Gedächtnis der Nation zu verankern. Trotzdem sei die Finanzierung des Lutherfilms extrem schwierig gewesen.

 

SELMA ist deshalb so ein gutes Beispiel für die Politik der Oscarvergabe, weil fast immer die als Beste Filme Nominierten auch ihr Schauspielerpersonal + Regisseure bei den Nominierten wiederfinden. Nicht so bei SELMA. Hier ist weder die Regisseurin ausgesucht worden, die sowieso die einzige Frau unter den diesmal nominierten Regisseuren gewesen wäre und die erste schwarze Frau überhaupt, noch ist der eindrucksvolle Hauptdarsteller David Oyelowo als Bester Schauspieler aufgestellt worden. Wer auch leer ausging – uns völlig unverständlich – ist UNBROKEN von Angelina Jolie als Regisseurin, die eindrucksvoller als AMERICAN SNIPER von Clint Eastwood eine amerikanische Legende erzählt, in der die Kriege ebenfalls eine große Rolle spielen, aber die Menschen und ihre Zeiten auch.

 

Auch Angelina Jolie hatte einen männlichen Helden, wie eigentlich alle die als Beste Filme Ausgewählten einen Mann als Objekt der Anschauung und Bewunderung haben. Eine Ausnahme ist THE GRAND BUDAPEST HOTEL, ein Film, von dem wir uns nicht vorstellen können, daß er den Oscar gewinnt, obwohl wir ihn ausgesprochen gerne gesehen haben. Er zeigt Europa in der guten alten Zeit, aber auch einer Zeit, die im vereinten Europa wiederkommen könnte. Keine Ausnahme ist BOYHOOD, der inzwischen weithin bekannte 12 Jahre lang gedrehte Film von Linklater, dessen Hauptdarsteller ein heranwachsender Junge ist. Linklater hat für seine Pioniertat einen Regieoscar verdient, aber keinen für den fertigen Film, auch wenn das noch so oft, gerade in der deutschen Presse behauptet wird. Was nämlich als Kindheit und Jugend dieses Knaben gezeigt wird, ist derart brav mittelschichtsorientiert, das dies gegenüber den Problemen vom Großwerden in der heutigen Welt schon hahnebüchen ist. Dem Jungen widerfährt keines der existentiellen Probleme, die Kinder und Jugendliche einfach haben: kein Tier stirbt, noch nicht einmal die Oma, er bleibt nicht in der Schule sitzen, es gibt kein Mobbing, daß die Eltern geschieden sind und die Mutter immer den falschen Mann wählt, ist schon das Übelste, was ihm widerfährt. Noch einmal, dies spricht gegen den Film, nicht gegen eine Auszeichnung für den Regisseur.

 

Bei den Besten Schauspielern finden wir die Leistung von Eddie Redmayne als Stephen Hawking schon außerordentlich, gerade weil es nicht geschauspielert erscheint, weil man dauernd den Astrophysiker selbt vor sich zu sehen glaubt. Der Film ist etwas zu stark aus der Sicht seiner ersten Frau gedreht, aber so war die Vorlage als Buch. Bei den Männern kann man angesichts so vieler Männerrollen immerhin noch die Besten aussuchen. Bei den Frauen hingegen läuft angesichts so weniger bedeutender Rollen alles auf Julianne Moore hinaus für ihre Alzheimerdarstellerin in STILL ALICE.

 

Bleiben zwei kleinere Ereignisse. Es sieht so aus, als ob die USA ihre zutiefst demokratische Korrektur der Politik durch Filme beibehalten könnten. Was sich damals mit Nixons Verschwörungen im Kino preiswürdig wiederfand, gilt auch für den Edward-Snowden-Film CITIZEN FOUR von Laura Potras als Bester Dokumentarfilm, leider auf Kosten von Wim Wenders wirklich schönem DAS SALZ DER ERDE. Und auch der Beste ausländische Film hat mindestens zwei preiswürdige Kandidaten: der russische Film LEVIATHAN, den wir grandios finden und den polnischen Film IDA, eine tief anrührende Frauengeschichte. Verdient haben ihn beide, aber die Oscarwahrsager tippen auf IDA.

 

 

Lassen wir es genug sein, weder BIRDMAN, noch THE IMITATION GAME haben wir erwähnt, schon deshalb nicht, weil sie die meisten Oscarnominierungen auf sich vereinen und sicher welche bekommen, denn die Pleite von AMERICAN HUSTLE vom letzten Jahr wird sich sicher nicht wiederholen, die bei 10 Oscarnominierungen keinen einzigen erhielten. Fortsetzung folgt heute Nacht!