Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. April 2015, Teil 2

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) – Mityo (Assen Blatechki) befindet sich in einer desolaten Situation, aber es kommt immer noch schlimmer. Das Leben seiner schwerkranken Frau, für deren ärztliche Behandlung er einen hohen Kredit aufnehmen musste, konnte er nicht retten. Jetzt macht auch noch die Molkerei dicht, die ihn als Fahrer beschäftigte.

 

Zu allem Übel droht ihm die Zwangsversteigerung seines Hauses, nur ein paar Wochen bleiben ihm zur Tilgung der Schulden, damit dem aufgewühlten Sohn Vasko (Ovanes Torosian) nicht auch noch das Zuhause genommen wird. Eine andere Arbeit in dem kleinen bulgarischen Dorf an der türkischen Grenze ist nicht in Sicht, und sein Milch-Laster nichts mehr wert. In seiner Aussichtslosigkeit lässt sich der Mittvierziger auf das Angebot eines früheren Armee-Freunds ein, Flüchtlinge über die Grenze zu schmuggeln.

 

Lebensnah und bedrückend erzählt der bulgarische Regisseur Stephan Komandarev von der großen Not in einer strukturschwachen Bergregion, von Mühsal und Überalterung aber auch von der Entwicklung Europas.

 

Auf dem schwindelerregend hohen „Judgment“, einem Schicksalsberg in den Rhodopen, in denen alten Mythen nach schon Griechen und Römer Verurteilte in den Tod gestürzt haben sollen, sind viele Menschen ums Leben gekommen. In Zeiten des Kommunismus versuchten Tausende von Bürgern aus Ländern des Ostblocks über diesen beschwerlichen Weg in die Türkei zu gelangen und viele bezahlten mit ihrem Leben. Heute suchen vor allem Flüchtlingsströme aus Syrien im westlichen Europa Zuflucht vor Kriegen, Armut und Verfolgung.

 

Der zwielichtige Dorfpatriarch „Kapitan“ (bekannt aus Filmen von Emir Kusturica: Miki Manojlovic) steht als absurdes Bindeglied zwischen den gegenläufigen Fluchtbewegungen. Einst verteidigte er fanatisch den Eisernen Vorhang, nun organisiert er den illegalen Grenzverkehr als skrupelloser Menschenschlepper.

 

Komandarevs engagierte Sozialkritik betrifft jedoch nicht nur das Elend der Flüchtlinge, sondern richtet sich auch darauf, dass wer wie Mityo in solch trostlosen Gegenden überleben will, das Leid anderer in Kauf nehmen muss, um sich selbst über Wasser zu halten.

 

Einfühlsam schildert Komandarev das Dilemma seines Protagonisten in seiner Vielschichtigkeit: Die ersten nächtlichen Schleuseraktionen gehen noch gut, aber von Mal zu Mal steigt die Gefahr, erwischt zu werden. Mit seinem Auftraggeber bekommt Mityo obendrein Ärger, weil er auf die Schwächeren unter den Flüchtlingen, die nicht gut zu Fuß sind, angeblich zuviel Rücksicht nimmt. Am meisten aber belastet ihn ein schreckliches Geheimnis, es führt zu wachsenden Spannungen mit seinem Sohn.

 

Auf die einzelnen Schicksale der Flüchtlinge geht der Film nicht näher ein, das mag man angesichts der Aktualität des Themas bedauern, aber damit hätte sich der Regisseur leicht verzetteln können. Es ist sinnvoll, dass er konsequent die Perspektive der Schlepper einnimmt und klarstellt, dass man es sich zu einfach macht, ihnen pauschal an Katastrophen, wie sie sich jüngst im Mittelmeer ereigneten, die Schuld zu geben. Wie am Beispiel Mityos zu erleben, handeln keineswegs alle aus niederen Motiven.