Die angelaufenen Filme in deutschen Kinos vom 11. Juni 2015, Teil 1

 

Corinne Elsesser

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Atemlos und ohne Unterbrechung in einer einzigen langen Kamerafahrt erzählt dieser Film eine Geschichte zwischen Nacht und Tag. Zu Beginn herrscht dunstige Clubathmosphäre. Eine junge Frau tanzt für sich allein, tritt aus der Unschärfe heraus und verschwindet wieder irgendwo auf der überfüllten Tanzfläche.

 

Sie trinkt ab und zu, tanzt weiter, beobachtet, wie ein paar jungen Männern der Eintritt verwehrt wird. Irgendwann geht sie. Draußen trifft sie auf die jungen Männer am Eingang. Sie sind angetrunken, sprechen sie an und sie geht ein Stück mit ihnen. Sie erzählen von Berlin. Das findet sie interessant, denn sie ist Spanierin, heißt Victoria und lebt noch nicht lange in der Stadt. Auch die Sprache kann sie noch nicht recht. Die jungen Männer wollen weiterziehen. Sie scheinen unter Druck zu stehen. Sie geht mit ihnen, einfach aus Neugier, in die Wohnsiedlung, auf die Dachterrasse und es ist, als sei das ein letzter schöner Augenblick.

 

Einer der Jungs, Sonne (Frederick Lau), hat es ihr besonders angetan. Sie haben noch etwas vor, meint er, und sie lässt sich überreden, wieder aus Neugier, bei einem Deal mitzumachen, in den die vier verwickelt sind. Was wie ein Abenteuer beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Albtraum. Sie treffen einen dubiosen Auftraggeber (André M. Hennecke) und als dieser sie mit Waffen ausstattet, wird es ernst. Sie müssen für ihn einen Geldbetrag beschaffen.

 

So naiv und unprofessionell sie das anstellen, so glatt scheint alles über die Bühne zu gehen. Doch dann steigt die euphorische Stimmung und mit ihr der Übermut. In der Disco tanzen sie bis zum Exzess, werden unvorsichtig, begehen Fehler. Schon ist die Polizei auf ihren Fersen und sie verlieren sich bald aus den Augen. Sonne und Victoria finden Zuflucht in einem Grandhotel. Doch die feine Hotelsuite erscheint ihnen bedrängend und ausweglos. Sie könne jetzt mit dem ganzen Geld verschwinden, meint Sonne. Sie will ihn nicht alleine zurücklassen. Als Victoria aus dem Hotel auf die Strasse tritt wird es langsam hell. Die Nacht ist vorbei und sie läuft aus dem Bild wie aus einem bösen Traum.

 

Die lange Kamerafahrt geht zuende. Als hätte man den Atem für die Dauer von 140 Minuten angehalten. Ohne Unterbrechung hat Sturla Brandth Grøvlen seine Kamera um die Darsteller herum bewegt, hat ein unsichtbares Netz aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven gesponnen, das die Figuren immer näher erscheinen ließ. Bei der Regiearbeit sei sich Sebastian Schipper „eher wie ein Fußballtrainer“ vorgekommen, der seine Mannschaft einstelle und darauf vertraue, dass sie das Besprochene auf dem Spielfeld umsetzen. Denn Anweisungen waren während des Drehs nicht mehr möglich und ein Drehbuch gab es eigentlich nicht.

 

In der Rolle der Victoria ist die spanische Schauspielerin Laia Costa ununterbrochen im Bild. Sie spielt ohne zu verschnaufen, ohne Pause, hochkonzentriert bis zum Äußersten. Eine Glanzleistung, mit der sie ihrem Namen als „Siegerin“ noch einmal gerecht wird.

Drehen in Realzeit gelang mit diesem Film erstmals ohne Kompromisse. Es gab schon früher Versuche, doch durchführbar wurde das erst mit der Digitaltechnik. Alfred Hitchcock wollte 1948 „Rope“ („Cocktail für eine Leiche“) in einem einzigen long take erzählen. Tatsächlich aber musste in mehreren Einstellungen gefilmt werden, die mit Abblenden aneinandergereiht wurden. Jean-Luc Godard arbeitete 1967 in „Week-End“ mit einigen siebenminütigen long takes, die die Kamera an einem endlos wirkenden Autostau vorbeifahren ließ. Und Alejandro Gonzalez Iñarritus „Birdman“ basiert auf langen Kamerafehrten, die allerdings eher als dramaturgische Effekte eingesetzt wurden.

 

Sebastian Schipper verzichtet nun ganz auf künstlerische Eingriffe. Er kommt ohne Schnitt oder Abblenden aus und erreicht dadurch eine immer intensiver werdende Unmittelbarkeit. Fast wird der Zuschauer Teil der Filmhandlung. Das lässt an die „teilnehmende Kamera“ des ethnographischen Films denken, wenn der Fremde möglichst nahe an die Rituale eines indigenen Volkes herangeführt werden soll. In „Victoria“ wird die Geschichte selbst zum Erlebnis. Die Realzeit des Films lässt die eigene Zeit vergessen.

 

Auf dem diesjährigen Berliner Filmfest wurde die Kameraarbeit von Sturla Brandth Grøvlen mit dem Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung ausgezeichnet.

 

Info:

Victoria 2015

Genre: Drama

Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke u.a.

Regie: Sebastian Schipper

Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergard-Holm, Eike Frederik Schulz

Kamera: Sturla Brandth Grøvlen

Verleih: Edition Senator

Länge: 140 Minuten