Die angelaufenen Filme in deutschen Kinos vom 11. Juni 2015, Teil 2

Annika Bald

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - eit die westliche Kultur sich von der Selbstjustiz abgewandt hat, sind Täter und Opfer streng voneinander getrennt. Die Opfer befinden sich in ihrer Sphäre, versuchen zu vergessen oder zu verarbeiten, während die Täter weggesperrt sind, um bestraft zu werden und bestenfalls zu bereuen.


Diese beiden Welten haben keinen Anknüpfungspunkt, sind vom Staatsapparat Justiz getrennt. Möglicherweise verhindert jedoch diese strikte Trennung eine Verarbeitung des Verbrechens sowohl für die Opfer als auch für die Täter. Diesem Ansatz widmet sich das Programm Restorative Justice, das Täter und Opfer in Gesprächen zusammen bringt und so Verständnis auf beiden Seiten forciert.

In einer dieser Gesprächsrunden um die pensionierte Richterin Janine Geske treffen wir Leola und Lisa, deren Bruder und Sohn im Alter von sechzehn Jahren erschossen wurde. Besonders die damals neunjährige Leola ist tief gezeichnet von dieser sinnlosen Tat. Wir sehen die verlebten Straßen der Bronx und der hochmütige Westeuropäer mag nun meinen, das solche Verbrechen dort einfach an der Tagesordnung sind, doch weit gefehlt. Wir treffen als nächsten Erik, Familienvater in der norwegischen Provinz, dessen Tochter Ingrid-Elisabeth von ihrem damaligen Freund Stian aus Eifersucht erschossen wurde. Der Kontrast zwischen diesen beiden Welten könnte nicht größer sein. In der idyllischen Natur Norwegens werden wir aus dem Frieden der klischeehaften Perfektion Skandinaviens geworfen.


Der dritte Fall liegt vollkommen anders. Es geht um Patrick von Braunmühl dessen Vater Gero 1986 von der RAF auf offener Straße ermordet wurde. Hier gibt es keinen direkten Täter. Der oder die Verantwortliche wurde nie identifiziert und so wird Patrick ein Abschließen mit seinem Schicksal seit Jahrzehnten verwehrt.


Sean Green ist kein typischer Gangster. Er scheint ein stiller, vernünftiger junger Mann zu sein und doch ist er zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt, da er Leolas Bruder in einem Laden erschoss. Und warum? Weil dieser ihn angeblich mit Eiern beworfen hat. Dies ist ein skurriler und schockierender Fall, der aber doch das Leben von mindestens drei Menschen zerstörte. Er beendete die Kindheit der neunjährigen Leola und lässt sie bis heute, elf Jahre später, nicht los. Sie wünscht sich Sean vergeben zu können, doch fühlt sich das an wie Verrat an ihrem Bruder. Was die junge Frau und auch ihre Mutter jedoch nun schon seit Jahren umtreibt, ist die fehlende Reue des Täters. Sean Green behauptet nach wie vor unschuldig zu sein. Und man möchte ihm fast glauben…

Patrick von Braunmühl hadert nicht mit seinen Versuchen dem Mörder seines Vaters zu verzeihen. Er kämpft mit der Ungewissheit: Warum wurde sein Vater ausgewählt, womit hat die junge Familie das verdient, wer hat seinen Vater erschossen? Der Täter bleibt identitäts- und gesichtslos. Und verwehrt dem mittlerweile knapp Fünfzigjährigen jegliche Möglichkeit der Verarbeitung dieses Schicksalsschlages. Jahre zuvor traf er Birgit Hogefeld, die zu besagter Zeit in der Führungsriege der RAF aktiv war, doch sie konnte oder wollte nicht zur Klärung des Falles beitragen. Einem erneuten Treffen nach ihrer kürzlichen Haftentlassung stimmte sie nicht zu. So trifft Patrick Manfred, den Fälscher der RAF, der auch im Dienst dieser Organisation tötete. Ob ihm dieses Treffen auf der Suche nach Antworten half, halte ich für mehr als fraglich.

Das Justizsystem in Norwegen ist das am wenigsten straffste der Welt. Wo Sean Green im amerikanischen Massenschlafsaal oder in einer winzigen Zelle vor sich hin vegetiert, da lebte Stian auf einer idyllischen Gefängnisinsel in einem norwegischen Fjord, kann sich frei bewegen, hat Fernsehen und Internet und bekommt schon nach wenigen Jahren seinen ersten Hafturlaub. Nach insgesamt sechs Jahren Haft wird er entlassen. Unfair? Auf den ersten Blick betrachtet, ja. Und doch ist dieser Junge der einzige, in dieser Dokumentation, der ehrlich zu bereuen scheint. Strafe ist nicht, möglichst viele Privilegien gestrichen zu bekommen, sondern findet im eigenen Kopf statt. Stian ist eine gebrochene Persönlichkeit; nicht weil er im Gefängnis war, sondern weil er ernsthaft damit hadert, was er getan hat. Er leidet mit den Hinterbliebenen seiner Freundin Ingrid-Elisabeth und zerbricht an der Schuld.

Ich habe selten einen Film gesehen, der gleichzeitig so still und doch so laut ist. Die Interviewsituationen sind sehr persönlich und geben uns Zuschauern kleine Einblicke in die vernarbten Seelen von Täter und Opfern. Große Dokumentarfilmkunst!