Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. Juli 2015, Teil 2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dieser Film ist gut geeignet, über Geschmack zu schreiben, denn was angesichts so aufwendiger Filmrezensionen, die ihre Kritik überweltlich formulieren, so als ob sie für alle gelten müßten, verloren geht, ist eine einfache Tatsache, ob mir ein Film zusagt oder nicht: diesen finden wir toll!!

Das mußte gesagt werden, denn nach der Pressevorführung ging es heiß her. Da sagen die einen Schrott und die anderen: hervorragend. Klar, daß es kein Allerweltsfilm ist, den Veronika Franz und Severin Fiala hier vorlegen, klar auch, daß dieser Film aus Österreich kommt. Denn dort, wo es besonders verschwiemelt ist und das allgemeine Bewußtsein eine Schönwettergesellschaft oktroyiert, da gibt es Keller und Verliese, in denen es sich nicht gut munkeln läßt, sondern in denen Menschen mißbraucht werden und an eigenen Leben gehindert werden.

 

Das gilt erst einmal für diese Familie nicht, von denen wir lange nur ein optisches und intellektuelles Rätsel und Verwirrspiel mitbekommen. Obwohl das Sehen des Films schon zurückliegt, ist der Anfang – übrigens auch viele der anderen Szenen – so im Gedächtnis gespeichert, daß man ihn sofort vor Augen hat. Wie das Maisfeld sich bewegt und die beiden schwer unterscheidbaren Zwillinge – daß es Zwillinge sind, weiß man auch erst später – darin auf- und untertauchen, das ist Film pur. Wir wären stundenlang alleine dieser Einstellung gefolgt, weil darin eine filmische Poesie , aber auch eine philosophische Herausforderung liegt. Wenigstens für uns.

 

Von Anfang an weiß man also, daß hier von Regisseursseite etwas Anspruchvolles in Gang gesetzt wird. Kein Wunder. Schließlich ist Veronika Franz die Frau von Ulrich Seidel und übrigens auch bei seinen Produktionen beteiligt. Und: schließlich sind wir Fan von Ulrich Seidel. Das muß man der Objektivität wegen schon hinzufügen. Obwohl – und das ist wichtig – das überhaupt kein Ulrich-Seidl-Film ist.

 

Aber eigentlich wollten wir ganz anders anfangen. Denn der Verweis auf die speziell österreichische Variante des Familienhorrors, die sich in Kellern und Verliesen abspielt, wird hier konterkariert, denn mitten in der grünen Wiese steht ein modernes minimalistisches Haus, wie die Faust aufs Auge der Natur sozusagen. Aber das kommt erst nach der eigentlichen Anfangssequenz, die einem mehr Schauer über den Rücken laufen läßt, als erlaubt ist. Wir sehen eine Reminiszenz an das überzuckerte harmonische Familienbild der Fünfziger Jahre in Deutschland: eine Szene aus der Trapp-Familie von Wolfgang Liebeneiner, in der GUTEN ABEND, GUT NACHT in Inbrunst gesungen wird, aber über allem der Schleier der Unwahrhaftigkeit liegt – für unsereinen. Höhepunkt, wenn Ruth Leuwerik – ja man sollte an die alten Schauspieler erinnern! .höchstpersönlich einem Gute Nacht wünscht, daß man zu Stein gefriert.

 

Diese Doppelbödigkeit kommt in ICH SEH ICH SEH ganz anders daher. Die Geschichte in Kurzfassung: Zwei Zehnjährige waren in Ferien beim Vater, der getrennt von der Mutter woanders lebt. Im modernistischen Haus am Waldrand kommt die Mutter mit Gesichtsbandage aus der Klinik. Sie ist zickig und tyrannisiert ihre Kinder. Kalt und fremd ist sie ihnen, wir erleben aber auch das Gegenteil von Zugewandtheit und Miteinanderspielen. Beim Ratespiel, wo jemand mit dem Zettel an der Stirn jemanden verkörpern soll, den die anderen bestimmt hatten, kommt sie nicht drauf: Mutter steht dort. Aber sie ist keine, entscheiden die Zwillinge im Kopf und vor allem nicht ihre. Deshalb entscheiden sie sich dann auch für die Tat: diese angebliche Mutter zu eliminieren, was mit einem regelrechten Foltern beginnt.

 

Zur Interpretation läßt sich viel erzählen. Aber das kann man ruhig dem Zuschauer überlassen. Wichtiger ist, auf so kleine Momente zu verweisen, wo sich Filmkunst zeigt. Wenigstens in unseren Augen, siehe oben. Das Verstörendste ist zuerst einmal die Gesichtsbandage der Mutter. Wenn man sie sieht, man weiß ja nicht, hatte sie einen Unfall, kommt sie von einer SchönheitsOP, so fallen einem so viele andere Filme ein, daß man sich gleich auf die zwei augenfälligsten beschränken muß: DIE HAUT IN DER ICH WOHNE von Pedro Almodóvar ist das stärkste Geschütz, weil es dort nicht nur um Gesichtskonstruktion durch Haut, sondern gleich um Geschlechtsumwandlung geht. In PHÖNIX, dem jüngsten Film von Christian Petzold, trägt Nina Hoss als Auschwitzüberlebende ihr Gesicht, das durch Schüsse verletzt wurde, in derselben Bandage, was jeweils deshalb so unheimlich wirkt, weil die Augen, die keine Mimik begleitet, eine weit tiefere, verstörendere Dimension erhalten, weil wir Zuschauer unsere Gefühle in den Augenausdruck hineinlegen, ihn also interpretieren, während wir bei starker Mimik nur Abnehmer dessen sind, was gezeigt wird.

 

Ein ganz anders Moment ist das Fehlen von Psychologie. Denn das Verhalten dieser Zwillinge – ob die Namen Lukas und Elias Biblisches, nämlich Altes und Neues Testament, andeuten, wissen wir nicht – fordert eigentlich die Antworten auf unsere Fragen heraus: was ist da los, warum sind diese so seltsam, was nur gesteigert wird durch das noch weitaus fremdere Verhalten dieser Mutter. Unangepaßt alle drei, unangepaßt an die Situation des sterilen Hauses in einer fleischlichen sinnlichen Natur.

 

Interessant auch, wie die Filmemacher mit unserer Zu- und Abneigung spielen. Wollen wir erst einmal den Zwillingen helfen gegen eine derart kalte und egoistische, ach was egozentrische und gemeine Mutter, so wanken unsere Sympathien, als....mehr im Kino.

 

P.S.: Gar nichts zur umwerfenden Musik von Olga Neuwirth gesagt, schon deshalb nicht, weil sie so genau die Szene untermalt, daß man gar nicht aufmerksam wird.