Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. August 2015, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dieser Film ist wie Kino, dabei zeigt er das wirkliche Leben und heißt auch noch so. Chaim (Leben) Lubelski ist der, den sein jüngerer Vetter, der Filmemacher Elkan Spiller auf die Leinwand schickt, damit er uns zeige, wie man die Beschädigungen der Eltern, Großeltern, Vorfahren auch bei einem aufregenden Leben nicht bewältigen kann, weil sie in einem nachwirken und es für Chaim nur einen Lebenssinn gibt, seiner das KZ überlebenden Mutter das Leben vor dem Tod erträglich zu machen.

 

Und diese Mutter wird das eigentliche Ereignis im Film. Man kann sich erst einmal kaum vorstellen, daß diese vitale wache Frau, die singt und scherzt, das KZ Peterswaldau überhaupt erlebt hat, sie sitzt neben ihrem Sohn am Anfang vom Alter her eher wie dessen Frau. So klare Augen, ein Verstand, dem man das Denken ansieht und sich deren Assoziationen erklären kann. Und ein Humor, den man sich selbst wünschte, so prustend und die Spannung auflösend gelingt dieser Frau der Ritt über den Bodensee zwischen tiefer Trauer und dem Wissen, daß wir Menschen auf Erden nur ein Klacks sind gegenüber der Weltgeschichte und man über sich selber lieber lachen sollte, als weinen, auch wenn die Tränen schon in den Augen stehen.

 

Der Film fängt ganz anders an. Bei flotter Musik sieht man einen Autofahrer, bärtig und leicht hippimäßig in Montur, der ein ausgesprochenes Pokerface trägt, während er doch gegen Regen und Wind auf der Straße entlangfährt, wie ein Roadmovie, das nie endet. Schnell erfahren wir, daß dieser Chaim sich jetzt nur noch um seine Mutter kümmert, mit der er in beschränkten Wohnverhältnissen in einem Einzimmerapartment im Altersheim in Antwerpen lebt. Dazwischen allerdings sind all die Informationen gestreut, die eigentlich diesen Chaim zur Hauptperson machen müßten, die er von der Erzählerrolle her im Film auch ist. Aber die immer wieder eingestreuten Lebensstationen – in Amerika mit Geschäften reich geworden, in Amerika mit Spekulieren arm geworden, als Schachspieler durch die Welt gegondelt, nachdem die Anfänge an der Pariser Sorbonne gleich das Ende des Studiums waren – all diese Stationen haben hier nur die Funktion deutlich zu machen, daß Chaim auf sein interessantes weltläufiges Leben verzichtete, als seine Mutter ihn brauchte. Da war er 63 Jahre.

 

Wie kann man so lachen, wie so inniglich die Lieder der Kindheit und die aus dem KZ singen, wenn einem die Nazis die ganze Familie ermordeten, Vater, Mutter, alle sind tot, und Nechuma Lubelski trägt die Toten in ihrem Herzen und lacht trotzdem. Und wir mit ihr und auch mit ihrem Sohn Chaim, der eine wunderbare Art hat, auf seine Mutter einzugehen, sie so spöttisch wie liebevoll am Leben zu halten. Über wie viele Jahre die Aufnahmen gehen, wissen wir nicht. Nur verändert sich die Mutter abrupt. Sie wird wirklich alt, kann schlecht gehen und man spürt ganz plötzlich, daß ihr Ende naht. Später wird der Sohn das, was wir hören und sehen, erneut kommentieren. Sie spricht nämlich auf einmal ständig von ihren Eltern, singt die Lieder ihrer Mutter, und lebt die letzten 2-3 Monate vor ihrem Tod nur noch in der Vergangenheit als Kind. Sie spricht und singt Deutsch, aber Deutschland: nie wieder!

 

Zuvor, noch ganz in der Gegenwart, hat sie uns von Chaim erzählt: „Er war ein schöner Junge und ich habe ihn immer schön angezogen, dann wurde er gammelig...er war ein schwer erziehbares Kind.“, wozu sie leicht beleidigt hinzufügt: „Ich habe doch normale Kinder geboren, keine Verrückten.“ Und dann sehen wir im Film verblüfft eine Reihe von Fotos von der Kindheit bis in Mannesalter von einem auffallend gut aussehenden Kerl, der dieser Chaim einmal war und auch sein könnte, wenn er sich nicht selbst so abgewrackt maskieren täte, dazu die Kippe ständig zwischen den Lippen, aber da merkt man dann schon, daß so ganz freiwillig sein Äußeres eben doch nicht entstand, sondern seine innere Haltung ausdrückt, der er als Sehnsucht nach etwas anderem nur noch das unentwegte Paffen läßt.

 

Das ist ein Film, der eigentlich von traurigen Verhältnissen und schwer geprüften Menschen handelt und der einem dann, völlig im Gegenteil frei und unbeschwert entläßt, vollgepumpt mit Liebe und Energie, daß man selber sein Leben macht und es die Sichtweise ist, mit der ich ein Leben meistern kann, in dem man sich selbst nicht zu wichtig nimmt, aber sich darum kümmert, wie man es den Liebsten so angenehm wie möglich macht. Das ist eigentlich ein Film über die Liebe.

 

Wie man aber Chaim, das bedeutet Leben, heißen kann und dann mit L'Chaim den jüdischen Trinkspruch „Auf das Leben!“ auch noch personifiziert, das macht diesem Typ weder leicht noch schwer keiner nach. Und während wir doch die ganze Zeit atemlos seine Mutter betrachten, hören wir, wie klug der Sohn, von dem die Mutter sagt: „Ich bin jetzt sein Kind“, über die Ausweglosigkeit seiner eigenen Existenz denkt und ausspricht, wie es allen geht, die mit den Pogromen der Urgroßeltern, der Ermordung der Großeltern und dem knappen Überleben der Eltern schon großgeworden sind: „Vergangenheit im Blut, in den Genen. Der Holocaust ist Gegenwart.“

 

Ein Film, um den man froh ist, daß es ihn gibt und auch noch einen weiteren über Chaim Lubelski erwartet.