Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. September 2015, Teil 1
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Eine Mitschülerin fehlt mal wieder, viele Kameraden hören ihrem Lehrer nicht zu, jeder verweigert sich dem Unterricht auf seine Weise. So könnte ein Sozialdrama beginnen, aber Giuseppe Piccione („Licht meiner Augen“, „Nicht von dieser Welt“) belegt,
dass man verdaulicher von dem schwierigen Alltag an einem römischen Gymnasium erzählen kann, ohne soziale Nöte, den fehlenden emotionalen Halt der Jugendlichen und ihren Vertrauensverlust in die Zukunft auszublenden. Bisweilen bewegt sich der Italiener dabei souverän auf einem schmalen, heiklen Grat zwischen menschlicher Wärme und erotischer Spannung. Wenn Lehrer ihre Schützlinge in den Arm nehmen, mögen bei manch einem die Alarmglocken schrillen. Aber so liebenswert wie Piccione seine Figuren zeichnet, hat sich ein scheußlicher Verdacht schnell erledigt.
Eine besonders komplexe, bizarre, eigenwillige Figur ist der vor der Pensionierung stehende Kunstlehrer Fiorito (Roberto Herlitzka), zynisch seinen Schülern gegenüber, die er allesamt als hoffnungslose Fälle behandelt, zugleich einsam in seinen wiederkehrenden Selbstmordgedanken. Aber mit seinem Geisteswitz nimmt er irgendwie auch für sich ein. Plötzlich bemüht sich eine ehemalige Schülerin in Verehrung, Mitleid und Sorge um Kontakt zu ihm.
Auch die Direktorin (Margherita Buy) lehnt jeden Einsatz außerhalb der Schule ab. Aber eines Tages muss sie einen verwaisten Schüler ins Krankenhaus begleiten. Ein neues Zuhause bieten will sie ihm unter keinen Umständen, aber als der Junge sein Herz an sie hängt, fällt ihr das schwerer als sie dachte.
Dritter im Bunde ist der junge Kollege Giovanni (Riccardo Scamarcio). Er engagiert sich sehr mitfühlend für die schwächeren Schüler, aber letztlich drohen auch seine idealistischen Vorsätze an der rauen Wirklichkeit zu zerschellen.
„Rot und Blau“ ist - wie der auf die Farben der Korrekturstifte anspielende Titel vermuten lässt - ein leiser, unspektakulärer Film. Piccione maßt sich nicht an pädagogische Königswege aufzuzeigen, porträtiert einfach nur Menschen zwischen ihren Hoffnungen, Illusionen und Enttäuschungen. Und das mit Leichtigkeit und Dialogen, die uns immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubern.